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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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war mehr, als ihm in den Sinn gekommen war. Emilys Vater ließ ihn zu sich rufen, der Herrgott persönlich! Vor Aufregung begann sein Herz zu klopfen. Heute fing ein neues Leben für ihn an.
    »Los, beeil dich! Papa wartet schon!«
    »Jetzt kriegt Liebling seine Belohnung!«
    »Pfui Teufel!«

12
     
    An den Zweigen der Büsche und Bäume drängte überall das junge Grün hervor, und auf den Rasenflächen schimmerte bereits der frische helle Flor des neuen Jahres, als Emily den St. James Park durchquerte. Wie im Oktober ließen die Kinder bunte Drachen steigen, die am Himmel so wilde Tänze im Wind vollführten, als wollten sie sich von den Schnüren losreißen, und Emily musste sich im Laufen den Hut festhalten, damit er ihr nicht vom Kopf flog.
    Aus der Ferne hörte sie, wie im Kristallpalast die Sirene zum Feierabend ertönte, und sie fing an zu laufen. Sie hatte nicht die Geduld, bis morgen zu warten, sie wollte Victor heute schon wieder sehen, und wenn es auch nur für fünf Minuten war, um ihm das Glas Griebenschmalz mit Apfelkraut zu geben, das sie für ihn gekauft hatte. Sie wusste, es war ziemlich leichtsinnig, was sie da tat, leichtsinnig und vielleicht auch ein bisschen gefährlich. Aber was konnte sie dafür? Es war Frühling, und außerdem hatte Pythia es ihr erlaubt.
    Als sie Hyde Park Corner erreichte, blieb ihr Blick unwillkürlich an dem nackten Achill hängen, über den sich alle ehrbaren Frauen von London empörten, seit er am Eingang des Parks aufgestellt worden war. Wie herrlich glänzte der Bronzeleib in der Abendsonne! Ob Victor unter seinen Kleidern wohl auch solche kräftigen Muskeln hatte?
    Emily verscheuchte den Gedanken fast so schnell, wie das Kribbeln entstanden war, das der Anblick der Götterstatue in ihr auslöste. Sie war nur hier, um Victor sein altes Lieblingsessen zu bringen, damit er nicht immer diese ekligen Steckrüben zu Abend aß, mehr nicht. Griebenschmalz und Apfelkraut hatten sie schließlich schon als Kinder in Chatsworth miteinander geteilt. Da war doch nichts dabei!
    Entschlossen kehrte sie dem nackten Achill den Rücken zu. VomKristallpalast strömten ihr Hunderte von Arbeitern entgegen. Mit der Hand am Hut schaute sie sich um. Irgendwo musste Victor sein, gleich würde er vor ihr stehen und sie anschauen, mit diesen träumenden, braunen Augen, die sie manchmal wie eine Liebkosung berührten. Als sie an den Kuss dachte, den er ihr gegeben hatte, spürte sie im Bauch ein Gefühl, wie wenn sie auf einer Schaukel von einer Baumkrone in die Tiefe sauste, ein wollüstig schmerzliches Ziehen, das gleichzeitig ein jubelndes Jauchzen war. Kein Kuss ihres Verlobten, so wurde ihr mit einem Anflug von schlechtem Gewissen bewusst, hatte je solche Gefühle in ihr ausgelöst.
    »Suchen Sie vielleicht Ihren Vater?«
    Als sie sich umdrehte, blickte sie in ein vertrautes Gesicht. »Mr. Plummer? Jetzt haben Sie mich aber wirklich erschreckt.«
    Der alte Arbeiter nahm die Mütze ab. »Entschuldigung, Miss Paxton, das wollte ich nicht. Kann ich irgendwas für Sie tun?«
    Emily hatte plötzlich das Gefühl, als stünden ihre geheimsten Wünsche ihr auf der Stirn geschrieben.
    »Ich bin nur ein bisschen spazieren gegangen«, schwindelte sie, »der Abend war einfach so schön. Aber wissen Sie was?«, sagte sie dann, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Vielleicht können Sie mir doch einen Gefallen tun.«
    »Zu Ihren Diensten.«
    »Sie kennen doch Victor Springfield, nicht wahr? Ich glaube, er gehört zu Ihrem Bautrupp.«
    »Ja, sicher«, erwiderte Plummer und sog an seiner Pfeife. »Warum?«
    »Könnten Sie ihm das wohl von mir geben?« Sie reichte Plummer das Glas Griebenschmalz mit Apfelkraut, so eilig, als könne sie es gar nicht schnell genug loswerden. »Sie müssen wissen«, fügte sie hinzu, als sei sie ihm eine Erklärung schuldig, »Victor und ich kennen uns von früher, aus Chatsworth. Wir haben schon als Kinder zusammen gespielt.«
    Plummer kratzte sich den grauen schweren Kopf. »Ich würdeIhnen den Gefallen gerne tun«, sagte er, »aber Victor arbeitet nicht mehr hier.«
    »Wie bitte?«, fragte Emily. »Das kann nicht sein. Ich habe ihn doch vorgestern selbst noch hier gesehen.«
    »Ja, Miss, vorgestern war er noch da, aber vorgestern war vorgestern. Sie haben ihm heute die Papiere gegeben, bei der Lohnauszahlung.« Plummer nahm die Pfeife aus dem Mund und stopfte umständlich mit dem Daumen den Tabak nach. »Das passiert jetzt vielen, der Bau ist ja so gut wie

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