Die Rebellin
fertig.«
»Sie meinen, sie haben Victor gekündigt?« Emily war entsetzt.
»Wer hat das getan? Sagen Sie mir sofort den Namen des Mannes, der dafür die Verantwortung hat. Damit mein Vater ihn zur Rechenschaft zieht!«
»Ich weiß nicht, Miss Paxton, aber ich würde lieber nicht so reden. Der Mann, der Victor gekündigt hat, war nämlich …« Während er sprach, ertönte vom Kristallpalast her ein zweites Mal die Sirene. Der alte Arbeiter runzelte die Stirn. »Na, heute wird wohl nichts mehr mit Feierabend«, brummte er und setzte sich die Mütze wieder auf den Kopf. »Tut mir Leid, Miss Paxton, ich hoffe, ich habe nichts Falsches gesagt. Aber ich glaube, ich muss nochmal zurück.«
13
Ein schwerer Sturm, der sich durch das Aufeinanderprallen kalter und warmer Luftmassen über dem Ärmelkanal gebildet hatte, war im Lauf des Tages über den Süden Englands hinweggezogen, um am späten Abend London zu erreichen. Wie ein wildes Tier tobte er über der Hauptstadt, fegte durch die Straßen und warf sich mit seiner ganzen Kraft auf den gläsernen Palast im Hyde Park. Über sieben Stunden rüttelte er an der zerbrechlichenHülle, mit einer solchen Wut, als habe der Himmel die Worte Colonel Sibthorps erhört. Doch das Gebäude hielt dem Angriff stand. Als der Sturm sich gegen Mitternacht legte, hatte er nur ein paar Dutzend Glasplatten aus der südlichen Front des Transepts gerissen, ohne an den übrigen Teilen des Bauwerks sichtbaren Schaden anzurichten.
Es war bereits ein Uhr morgens, als Joseph Paxton endlich nach Hause zurückkehrte. Bis zuletzt hatte er die Sicherungsmaßnahmen überwacht, war selbst auf das Dach des Pavillons hinaufgeklettert, unter Missachtung aller Gefahr, und hatte mit Hand angelegt, um sein Gebäude vor den himmlischen Elementen zu schützen. Müde und bis auf die Knochen durchnässt, sehnte er sich jetzt nur noch nach einem Bad, einem Glas Punsch und seinem warmen weichen Bett.
»Warum hast du das getan?«
Wie eine Ohrfeige empfing ihn Emilys Frage, als er die trotz der späten Stunde noch hell erleuchtete Halle betrat. Seine Tochter stand vor dem Kamin mit einer Zigarette in der Hand, während Sarah mit einem Glas Milch im Sessel saß. Paxton runzelte die Stirn. Wenn Sarah um diese Zeit Milch trank und Emily in Gegenwart ihrer Mutter rauchte, konnte das nichts Gutes bedeuten.
»Was habe ich getan?«, erwiderte er, obwohl er ziemlich sicher war, den Grund für ihre Frage zu kennen. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Außerdem – warum seid ihr überhaupt noch auf?«
»Ich will wissen, warum du Victor entlassen hast!«
Paxton biss sich auf die Lippen. Warum hatte er nur auf Sarah gehört? Sie hatte von ihm den Rauswurf verlangt, obwohl eine solche Maßnahme in keiner Relation stand zu dem, was vorgefallen war. Doch er hatte ihr nachgegeben, wie schon so oft in all den Jahren ihrer Ehe, wenn sie sich wegen Victor gestritten hatten. Während er überlegte, was er seiner Tochter jetzt sagen sollte, gab Sarah ihr an seiner Stelle die Antwort.
»Der Kerl hat dich geküsst, Emily. Ich glaube, das ist Grund genug.«
»Wer … wer hat das behauptet?« Sie verstummte, das schlechte Gewissen verschlug ihr die Sprache, doch ihre Augen blitzten vor Empörung.
»Du brauchst gar nicht erst versuchen, es zu leugnen«, sagte Sarah. »Ich habe es selber gesehen. Schämst du dich nicht, uns alle so zu hintergehen?«
»Wie kommst du dazu, mir hinterherzuschnüffeln?«
»Ich habe dir nicht hinterhergeschnüffelt«, erwiderte Sarah ganz ruhig und nahm einen Schluck von ihrer Milch. »Ich wollte dir nur die Ohrringe bringen, die du im Zug vergessen hattest, die Ohrringe von deinem Verlobten. Es war reiner Zufall, dass ich euch erwischt habe. Und wenn du’s genau wissen willst, ich hätte euch lieber nicht dabei zugesehen, das kannst du mir glauben.«
»Und warum hast du nichts gesagt? Wir waren doch am selben Tag zusammen auf dem Empfang von Lord Granville, aber du hast die ganze Zeit so getan, als ob nichts wäre.« Emily drückte ihre Zigarette aus. »Ich kann mir schon denken, warum. Du wolltest nicht, dass ich einen Skandal mache, du wolltest dich nicht mit mir blamieren. Typisch!« Voller Verachtung kehrte sie ihrer Mutter den Rücken zu. »Wie kannst du nur so etwas tun, Papa? Victor sorgt dafür, dass die Arbeiter den Streik beenden, und zum Dank dafür wirfst du ihn raus. Dabei hattest du vor, ihn zu deinem Assistenten zu machen! Das hast du mir selbst geschrieben. In deinem Brief
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