Die Rebellin
uns ersetzen können.
Alle Glaser von London sind schon längst hier auf dem Bau, genauso wie die aus Tottenham und Reading und Luton. Manche kommen ja schon aus Birmingham und Derby, ein paar sogar aus Glasgow und Edinburgh, wie Bill McCloud, weil Sie hier unten keine Leute mehr finden.«
Paxton runzelte die Stirn. Woher kannte er das Gesicht? Er wusste, er hatte es schon mal gesehen, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wann und wo. Der Kerl war höchstens Mitte zwanzig, er hatte scharfe, gefährliche Züge, aber seine Augen wirkten irgendwie sanft, fast verträumt. Paxton wechselte einen Blick mit dem Hauptmann. Die Soldaten hielten immer noch ihre Stöcke in der Hand und warteten nur auf ein Zeichen.
»Wollen Sie uns einschüchtern, Mr. Paxton?« Der Mann machte noch einen Schritt auf ihn zu, ohne jedes Zeichen von Angst. »Natürlich, Ihre Soldaten können uns niederknüppeln, wenn sie wollen, vielleicht sogar ein paar von uns erschießen. Aber was haben Sie davon? Ihr Bau wird davon jedenfalls nicht fertig. Dazu brauchen Sie uns!«
Die ruhige und sichere Art, in der sich der junge Glaser ausdrückte, nötigte Paxton Respekt ab. Er redete in klaren Sätzen, argumentierte mit Logik und Verstand, fast wie jemand, der richtige Schulen besucht hatte. Das war viel bedrohlicher als die dumpfen Parolen, die die Arbeiter sonst bei solchen Auseinandersetzungen von sich gaben. Doch das Schlimmste war: Er hatte Recht, es gab keinen Ersatz für die vorhandenen Arbeitskräfte, weder in London noch auf der ganzen britischen Insel.
Paxton hob die Hand. Die Soldaten steckten ihre Stöcke ein.
»Was schlagen Sie vor?«
»Wir verlangen, dass der Stückakkord aufgehoben wird. Vierzehn Stunden Arbeit am Tag sind genug. Das sind sowieso vier Stunden mehr, als die Gesetze erlauben.«
»Wir haben dafür die Genehmigung der Regierung.«
»Kann sein, aber nicht von uns. Vierzehn Stunden Stückakkordschafft kein Mensch auf Dauer. Wenn Sie wollen, dass Ihr Palast rechtzeitig fertig wird, dürfen Sie uns nicht wie Tiere behandeln.« Paxton dachte nach. Die Nichteinhaltung des Zehn-Stunden-Gesetzes hatte erst im vergangenen April in vielen Fabriken zu heftigen Agitationen geführt. Wenn in der Öffentlichkeit bekannt wurde, dass die Regierung, die dieses Gesetz selbst erlassen hatte, Verstöße dagegen beim Bau des Ausstellungsgebäudes unterstützte, war das ein Pulverfass, das jeden Augenblick in die Luft fliegen konnte. Die Gewerkschaften würden sich zusammenschließen wie beim Streik der Maschinenarbeiter in Manchester und womöglich sämtliche Arbeiten auf der Baustelle zum Stillstand bringen.
»Angenommen, ich verzichte auf den Stückakkord. Garantieren Sie mir dann, dass wir trotzdem die Termine einhalten?«
Der Glaser wechselte einen Blick mit Plummer. Der alte Vorarbeiter nickte.
Paxton gab sich einen Ruck. »Also gut, abgemacht!« Die Worte kamen ihm nur mit Mühe über die Lippen, aber er hatte keine andere Wahl.
»Noch nicht ganz!«, sagte der junge Streikführer.
»Was zum Teufel soll das heißen?«
»Wir wollen bei der Veranstaltung selbst mit dabei sein, statt nur für Sie den Pavillon zu bauen.«
»Ich verstehe kein Wort!«, sagte Paxton.
»Die Zeitungen schreiben, die Weltausstellung soll ein Fest des Fortschritts sein. Aber gehört Ihnen der Fortschritt allein?« Der Glaser machte eine kurze Pause, bevor er die Frage selbst beantwortete. »Nein, der Fortschritt gehört uns allen, genauso wie die ganze Welt. Auch wenn Sie und Ihresgleichen so tun, als wären beide Ihr persönlicher Privatbesitz.«
Paxton wurde es langsam unheimlich. Der Kerl redete, als hätte er die Predigten von Bischof Wilberforce gehört.
»Ihre konkrete Forderung?«
»Die will ich Ihnen gerne nennen, Mr. Paxton. Die Weltausstellungwird es nur dann geben, wenn wirklich alle an der Veranstaltung beteiligt sind – auch wir Arbeiter! Entweder mit uns oder gar nicht! Nur wenn Sie uns das garantieren, arbeiten wir weiter.«
Der Kerl sprach mit so ruhiger Bestimmtheit, als bestellte er ein Glas Ale in einer Kneipe. Paxton hätte ihn am liebsten davongejagt, doch plötzlich hatte er eine verrückte Idee. Wer weiß, vielleicht bot die Forderung sogar eine Chance? Vielleicht konnte man, wenn man sie erfüllte, damit nicht nur den Streik abwenden, sondern sogar dem ganzen Unternehmen noch zusätzlichen Rückenwind verschaffen… Prinz Albert hatte sich von den Mahnungen des Bischofs, die Arbeiter in die Organisation der Ausstellung
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