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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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War nicht auch Emily ein fauler Apfel? Wer weiß, vielleicht hatte sie ihn vorsätzlich in die Irre geführt, von Anfang an, im Auftrag ihres Vaters … Vielleicht hatte sie ihn nur als Werkzeug gebraucht, sich an ihn rangemacht, damit er die streikenden Arbeiter beschwichtigte und der verfluchte Bau, das Denkmal ihres Vaters rechtzeitig fertig wurde … Warum hatte er ihr überhaupt wieder begegnen müssen? Er hatte die Paxtons jahrelang vergessen, sie aus seinem Gedächtnis gelöscht, als Emily plötzlich vor ihm gestanden hatte. Wozu? Um ihn ein zweites Mal zu demütigen, zu erniedrigen, zu verletzen? Victor spürte, wie die Wut in ihm immer größer wurde, das Bedürfnis, irgendetwas zu zerstören. Vielleicht sollteer sich Robert und seinen Freunden anschließen. Robert war bei dem Brandanschlag entkommen, er brauchte nur in der Drury Lane nach ihm zu fragen, um ihn zu finden.
    Ein erster Sonnenstrahl, der sich durch den Nebel gekämpft hatte, berührte Victors Gesicht.
    »Die junge Lady da will dich sprechen. Es geht um einen Druckauftrag …«
    Es war, als hätte ihn jemand am Ärmel gezupft. Toby war es gewesen, der Emily zu ihm geführt hatte, auf dem Jahrmarkt in Temple. Wie lange war das jetzt her? Victor hatte seinen Augen nicht getraut, als Toby auf sie gezeigt hatte. Emily stand über ein Guckkastentheater gebeugt, ganz vertieft in den Anblick der kleinen Bühne, wo winzige Figürchen ein Drama von Shakespeare aufführten.
    »Das Blut des Königs will ich fließen sehen …«
    Victor schaute über den Friedhof, ein milchig verhangenes Labyrinth aus Wildpflanzen und Efeu, verwitterten Grabsteinen und versunkenen Kreuzen. Nein, nicht das Blut eines Königs war geflossen, sondern Tobys Blut. Die Wachmänner der Eisenbahngesellschaft, Joseph Paxtons Truppen, die Truppen von Emilys Vater, hatten ihn umgebracht, erschossen, einfach abgeknallt, wie einen Hasen oder Fuchs auf der Jagd. Die Erinnerung schnürte Victor die Kehle zu. Während sich der Nebel über dem Friedhof allmählich lichtete und immer mehr Gräberfelder aus den Schwaden hervortraten, holte er seinen Schnupftabak aus der Jacke und nahm eine Prise gegen die aufkommenden Tränen.
    Hunderte von Menschen waren hier zur letzten Ruhe gebettet, unter Wildrosen und Mädchenstatuen und marmornen Sarkophagen. Doch von Toby kannte er nicht mal das Grab. Er hatte ihn am Bahnhof zurücklassen müssen, um sein eigenes Leben zu retten, sonst hätten sie ihn genauso erwischt.
    Victor fasste einen Entschluss. Er würde nicht zu Emily gehen.
    »Sag mal, wie ist es eigentlich, wenn man sie küsst?«
    Eine Brise kam auf und strich über den Friedhof. Es war, als würdeeine unsichtbare Hand die Nebelschwaden fortziehen. Wie von einer bleiernen Last befreit, erhoben sich die Bäume über den Gräberfeldern und reckten ihre Zweige empor. Zwei Spatzen flogen vor Victor auf und schwangen sich in die Lüfte. Der Anblick traf ihn mitten ins Herz. Plötzlich war alles wieder da: der Nachmittag im »Paradies«, der Duft der Blumenbeete, Emilys Lachen … Ihr Aufstieg im Fesselballon, die Luftfahrt über London und das Land hinweg, hoch und immer höher hinaus, als wollten sie den Himmel berühren … Und schließlich der Kuss.
    »Nimmst du darum Schnupftabak? Ich meine, wenn’s einen Sixpence kostet, muss es ja eine verdammt feine Sache sein. Mindestens so fein wie Bratfisch und Whisky und Kautabak zusammen.«
    Vom Kirchturm schlug die Glocke neun Uhr. Noch blieb ihm eine Stunde Zeit. Im Laufschritt verließ Victor den Friedhof. Toby hatte Emily gemocht – er hätte gewollt, dass sie sich wiedersahen.
    Es war drei Minuten nach zehn, als Victor das Drury-Lane-Theater erreichte. Auf dem Platz vor dem Gebäude, wo an Werktagen ein unaufhörlicher Strom von Fahrzeugen und Passanten vorüberzog, war an diesem Sonntagmorgen kaum eine Menschenseele zu sehen. Nur ein paar Familien und einige wenige schwarz gekleidete Frauen gingen mit ihren Gesangbüchern zum Gottesdienst.
    Ein Pferdeomnibus hielt vor dem Theater. Der Schaffner öffnete die Tür, und ein paar Fahrgäste stiegen aus.
    Da war sie!
    Victor sah, wie Emily von der Plattform sprang, sich kurz umschaute und dann auf einen Nebeneingang des Gebäudes zuging. Sein Herz hüpfte vor Freude.
    »Warte!«, rief er und lief ihr nach.
    Emily drehte sich um. Als Victor ihr Gesicht sah, glaubte er, dass sein Herz plötzlich stillstand.
    Eine fremde Frau schaute ihn an, eine Mischung von Verwunderung und Verärgerung im

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