Die Rebellin
und der Mann, der dich heiraten will, ist nach deinem Vater wahrscheinlich der tüchtigste Mann von ganz England. Willst du das etwa gefährden?«
Emily wandte sich ab und schaute zum Fenster hinaus.
»Schweigen ist keine Antwort!«, sagte Sarah.
Emily steckte sich eine Zigarette an.
»Und Rauchen erst recht nicht!«
Sie erwiderte immer noch nichts. Stattdessen paffte sie eine Rauchwolke nach der anderen in die Luft. Ihre ganze Person war nur noch Trotz und Opposition. Paxton konnte kaum noch mit ansehen, wie sehr sie litt, und hatte das Bedürfnis, sie wie früher in den Arm zu nehmen und zu trösten. Obwohl er nicht wusste, wie er es anfangen sollte, machte er einen Schritt auf sie zu.
»Emily …«
Er streckte die Hand nach ihr aus, um über ihr Haar zu streichen. Da merkte er plötzlich, dass seine Finger vor Kälte zitterten, und seine Zähne schlugen aufeinander. Um Gottes willen, bekam er etwa Schüttelfrost? Das war das Letzte, was er sich jetzt leisten konnte – in sechs Stunden wurde er schon wieder auf der Baustelle gebraucht!
»Ja, Papa?«, sagte Emily leise.
Ohne sie zu berühren, ließ er die Hand sinken. Nein, es war nicht der Augenblick für komplizierte Erklärungen. In dieser Verfassung gehörte er ins Bett, nicht vor ein Tribunal.
»Deine Mutter hat Recht«, sagte er also, um dem Auftritt ein Ende zu machen. »Es gibt keine andere Lösung.«
Emily drehte sich um. »Wofür gibt es keine andere Lösung?«
»Für Victor. Ich musste ihm kündigen. Die Gründe hat deine Mutter genannt. Ich kann ihr nur beipflichten. In allem, was sie gesagt hat.«
»Du meinst, du willst ihn nicht wieder einstellen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Emily, so Leid es mir tut, es bleibt dabei. Für Victor ist kein Platz bei uns.«
Emily starrte ihn ungläubig an. »Ist das wirklich dein letztes Wort?«, fragte sie.
Paxton nickte.
»Dann wünsche ich euch eine gute Nacht.« Emily warf ihre Zigarette in den Kamin und marschierte zur Tür.
»Hier geblieben, mein Fräulein!«, rief Sarah.
»Schlaf gut!«, sagte Paxton.
Mit lautem Knall flog die Tür ins Schloss.
14
Victor beugte sich über das Grab und richtete das kleine, schwarze Holzkreuz auf, das der Sturm der letzten Nacht umgeknickt hatte. Er hatte es selbst vor mehreren Jahren mit dem Namen seiner Mutter sowie dem Datum ihrer Geburt und dem ihres Todes versehen. Mit nur achtunddreißig Jahren war sie gestorben, als alte, abgehärmte Frau, und Victor konnte sich kaum mehr erinnern, wie sie ausgesehen hatte, wenn sie lachte. Nach ihrem Tod hatte er alles Geld, das sie in ihrem Leben gespart hatte, dafür ausgegeben, dass sie eine eigene Ruhestätte bekam, auf dem Gemeindefriedhof von St. Pancras, unweit ihrer letzten Wohnung an der Euston Road. Die Vorstellung, dass sie namenlos mit Dutzenden von anderen namenlosen Toten in einem Armengrab verschwand, war ihm unerträglich gewesen.
»Soll ich Emily wiedersehen?«
Wie sehr wünschte er sich, seine Mutter könnte ihn hören. Doch nur das Zwitschern von ein paar Spatzen, die irgendwo im Morgennebel den neuen Tag begrüßten, antwortete ihm. Aus denweißlichen Schwaden starrten ihn steinerne Engel mit leeren Augen an, verrostete Cherubim und bemooste Säulenheilige, die über die Gräber und Katakomben der Reichen wachten, von mannshohen Hecken umgeben und manche mit goldenen Wappen verziert. Wie erbärmlich nahm sich dazwischen der kleine Erdhügel aus, unter dem seine Mutter begraben lag. War es Gottes Wille, dass die Menschen noch über den Tod hinaus so verschieden waren? Bei dem Gedanken an Gott sah Victor das Gesicht Joseph Paxtons vor sich. Was für ein Idiot war er gewesen, zu glauben, dieser Mann würde ihn in seine Welt aufnehmen! Bei seinem Rauswurf hatte Paxton ihm Geld in die Hand drücken wollen, fünfzig Pfund, als Entschädigung, aber Victor hatte es ihm vor die Füße geworfen. Nein, seine Mutter hatte sich nicht geirrt. Auch wenn sie nun für immer schwieg – er wusste, was sie ihm antworten würde.
»Die Paxtons sind alle faule Äpfel, einer wie der andere …«
In seinem Bauch spürte Victor eine Wut, mit der er am liebsten die ganze Welt in die Luft gesprengt hätte. Doch zugleich fühlte er sich wie gelähmt, so sehr sehnte er sich danach, Emily wiederzusehen. Sie selbst hatte den Vorschlag gemacht, dass sie sich heute trafen. Hatte es überhaupt noch Sinn? Ihr Kuss hatte ihn so glücklich gemacht, so sicher, doch jetzt wusste er nicht mehr, was dieser Kuss bedeutete.
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