Die Rebellin
Dann sieht die Welt gleich wieder anders aus.«
»Genau!« Er strahlte über das ganze Gesicht, um dann mit der eigentlichen Nachricht herauszurücken. »Der Herzog hat mich den Aktionären der Midland-Eisenbahngesellschaft als Direktor vorgeschlagen. – Ich habe angenommen.«
Emily verschluckte sich fast am Rauch ihrer Zigarette. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«
Er schüttelte den Kopf. »Der Eisenbahn gehört die Zukunft, Emily, damit kann man bald mehr Geld verdienen als mit irgendetwas anderem. Das ist meine Chance, eines Tages vielleicht so reich zu werden wie der Herzog.«
»So reich wie der Herzog?«, staunte sie. »Glaubst du wirklich?« Emily wusste, was Geld für ihren Vater bedeutete: Macht, Unabhängigkeit, Freiheit. Geld, so hatte er ihr schon viele Male erklärt, war in der menschlichen Gesellschaft dasselbe wie Kraft oder Stärke im Reich der Natur – nur wer Geld besaß, könne im Dschungel des Lebens bestehen. Das alles wusste Emily und verstand sogar, warum ihr Vater so dachte. Weil er früher, als er so alt gewesen war wie sie, kaum mehr als das Hemd auf dem Leib besessen hatte.
»Trotzdem, Papa … Du, ein Gärtner, als Eisenbahndirektor?«
»Du meinst, das ist ein Widerspruch? Überhaupt nicht! In Wirklichkeit ist beides eng miteinander verwandt, enger jedenfalls, als du glaubst. Vielleicht kann man es so vergleichen.« Nachdenklich ließ er die Spitzen seiner Koteletten durch die Finger gleiten, während er an seiner Zigarette sog. »Das Eisenbahnnetz, wie es gerade überall in England entsteht, hat eine ähnliche Aufgabe wie das Adernsystem im Blätterwerk unserer Seerosen. So wie die Adern die einzelnen Pflanzenteile mit allen notwendigen Stoffen versorgen, so wird schon bald die Eisenbahn den Austausch von Rohstoffen und Waren zwischen den Städten und Regionen des Landes sichern. Die Menschen müssen nur erst begreifen, was für eine wunderbare Erfindung Mr. Stephenson gemacht hat. Aber wenn das passiert, werden wir eine Revolution erleben, die alles von Grund auf verändert. Darauf würde ich nicht nur meinen Kopf verwetten, sondern sogar mein Vermögen.«
Emily schaute ihren Vater an. Aus seinen Augen leuchtete ein solcher Enthusiasmus, dass er trotz der hohen Stirn, der buschigen Brauen und der inzwischen grau melierten Wangenkoteletten, die ihm fast bis an die Mundwinkel reichten, wie ein junger Mann aussah. Wenn es eine Eigenschaft gab, für die Emily ihn am meisten liebte, dann für diesen Optimismus, der so ansteckend auf sie wirkte wie ein Schnupfen im November oder das Lachen ihres jüngsten Bruders Georgey. Eine Frage aber blieb offen.
»Und was wird mit deiner übrigen Arbeit?«
Paxton nickte. »Die Ernennung bedeutet, dass ich in Zukunft oft unterwegs sein werde. Traust du dir zu, mich hier zu vertreten? Zum Beispiel, wenn wir ein neues Gewächshaus bauen?«
Bevor Emily ihrem Vater eine Antwort geben konnte, ging die Tür auf und ihre Mutter kam herein. Sarah Paxton war gerade aus London zurückgekehrt, wo sie eine Design-Prämierung der Society of Arts besucht hatte; die Preisverleihung hatte keinGeringerer als Prinz Albert durchgeführt, der Ehemann der Königin.
»Um die Arbeit brauchst du dir keine Sorge zu machen«, beantwortete sie an Emilys Stelle die Frage ihres Mannes, während Vater und Tochter eilig ihre Zigaretten in einem Pflanzenkübel verschwinden ließen. »Ich werde mich schon darum kümmern. Übrigens«, wechselte sie dann das Thema, »es gibt interessante Gerüchte. Man plant in London eine riesige Ausstellung, mit Produkten aus der ganzen Welt.«
»Papa hat nicht dich, sondern mich gefragt«, sagte Emily, verärgert darüber, dass ihre Mutter sie wieder einmal so selbstverständlich überging, als wäre sie gar nicht da.
Sarah zuckte die Achseln. »Die einzige wichtige Frage eines Mädchens in deinem Alter ist die Frage nach einem Ehemann. Sagt, hat hier jemand geraucht? Es riecht bei euch ja wie in einem Pub.«
Gegen ihren Willen musste Emily feststellen, wie großartig ihre Mutter aussah. Obwohl Sarah die vierzig um einiges überschritten hatte, war sie immer noch eine sehr schöne Frau. Das volle kastanienbraune Haar, das sie unter ihrem weit geschweiften Hut hochgesteckt hatte, umschmeichelte ihr helles, ebenmäßiges Gesicht, aus dem zwei wache, intelligente Augen blickten, und die geschwungenen Brauen, von denen beim Sprechen sich manchmal die eine leicht ungläubig kräuselte, verliehen ihr jenen Hauch von Unnahbarkeit, weshalb die
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