Die Rebellin
wich kaum verhüllter Geringschätzung. »Sicher, Miss, aber der ist nur für Dienstboten.« Mit einem weiß behandschuhten Finger wies er ihr den Weg. »Am Haus vorbei durch den Hinterhof, neben der Waschküche die Treppe hinauf. Ich glaube, im Dachgeschoss wohnt tatsächlich eine Familie. Vielleicht versuchen Sie es dort.«
16
»Ich glaube, die Ballonfahrt war wirklich ein Segen«, sagte Marian. »Ich habe mich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt.«
»Du weißt gar nicht, wie sehr mich das freut«, erwiderte Cole, während er ein letztes Paar Socken einpackte und seine Reisetascheverschloss. »Wenn ich nicht schon mit dir verheiratet wäre, ich würde dir auf der Stelle einen Antrag machen.«
»Ach, Henry. Ich glaube dir kein Wort – aber es ist schön, dass du das sagst.«
Ein rosa Hauch legte sich über ihr Gesicht, wie ein zartes Morgenrot, während sie sich am Ärmel ihres Nachthemdes zupfte, verlegen wie ein Schulmädchen. Cole konnte es kaum fassen. Ihr Zustand hatte sich wirklich auf erstaunliche Weise verbessert. Seit sie vor zwei Wochen die Fahrt in Mr. Greens Fesselballon nachgeholt hatten, atmete sie viel freier und hustete nachts kaum noch Blut. Lag es wirklich nur an der Luftfahrt, wie Dr. Johnson meinte, oder war es ein Zufall? Cole wusste es nicht. Doch dieser Wandel war fast mehr, als er verkraften konnte. Er hatte Marian in seinem Herzen schon zu Grabe getragen, sie selber hatte es gewollt, und er hatte gelitten, als wäre sie wirklich für immer von ihm gegangen. Aber jetzt sah es so aus, als würde womöglich alles ganz anders, als könne sie vielleicht doch, entgegen allen Prognosen des Arztes, die schreckliche Krankheit besiegen, als gebe es einen Neuanfang für sie. Ein fast vergessenes Gefühl wallte in Cole auf. Liebte er Marian immer noch? Sie hatte ihre gemeinsamen Kinder geboren, sie hatten ein ganzes Leben miteinander geteilt, verbunden durch eine Vertrautheit, die er mit einer anderen Frau vielleicht nie wieder erleben würde …
»Weißt du was?«, sagte er. »Wenn ich zurück bin, spreche ich mit Mr. Green. Wir machen noch eine Fahrt mit dem Ballon.«
»Können wir uns das denn leisten?«
»Ich werde ihm ein Geschäft vorschlagen. Er darf auf der Weltausstellung Fahrten für das Publikum anbieten, dafür soll er dich vorher mit seinem Ballon kurieren. Jede Woche einmal. Was meinst du, wie dir das bekommt!«
»Immer fällt dir eine Lösung ein, Henry.« Zärtlich lächelte sie ihn an. »Musst du wirklich fort? Kann nicht mal ein anderer für dich die Arbeit tun?«
»Wie stellst du dir das vor? Die Midland Railway hat hundert neue Waggons angeschafft, nur wegen der Ausstellung, aber die Züge sind längst noch nicht ausgebucht. Ich muss die Werbetrommel rühren.« Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. »Ich glaube, ich sollte jetzt langsam los.« Er beugte sich über sie und küsste sie auf die Stirn.
Da klingelte es an der Wohnungstür.
»Wer ist das denn? Dr. Johnson?«, fragte er. »Ich wusste gar nicht, dass er heute kommt.«
»Ich auch nicht«, sagte Marian.
»Ich mache schon auf«, rief Hardy im Flur.
Eine Sekunde später ging draußen ein Schloss, und quietschend öffnete sich die Tür.
»Wohnt hier Mr. Henry Cole?«
Als er die Stimme hörte, die da draußen seinen Namen nannte, fuhr Cole zusammen. »Ich … ich kümmere mich darum«, stammelte er und machte sich von Marian los. »Leg du dich am besten wieder ins Bett.«
Er nahm seine Tasche und eilte hinaus.
Im Flur stand Emily, noch außer Atem vom Treppensteigen. Irritiert sah sie in die Gesichter der Kinder, die aus der Küche lugten. »Los, macht euch fertig für die Kirche!«, herrschte Cole sie an. Die Kinder verschwanden, nur Hardy blieb zurück und musterte Emily misstrauisch mit seinen ernsten, dunklen Augen.
»Du auch!«
Widerwillig folgte Hardy dem Befehl.
»Emily!«, sagte Cole, nachdem er die Küchentür hinter seinem Sohn geschlossen hatte. »Was um Himmels willen führt Sie her?«
»Es ist etwas Fürchterliches geschehen. Ich brauche Ihre Hilfe. Dringend!«
»Meine Hilfe? Sicher, gerne, aber – ich bin eigentlich gar nicht mehr hier. Ich sollte schon längst am Bahnhof sein. Um zehn nach elf geht mein Zug.«
»Ich weiß. Aber ich dachte, ich fahre einfach mit Ihnen zum Bahnhof. Dann kann ich Ihnen unterwegs …«
»Gute Idee, so machen wir’s.« Er warf sich einen Mantel über den Arm und schob Emily vor sich her zur Tür, ins Treppenhaus. »Übrigens, falls Sie sich
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