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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Hoftracht angelegt, mit Kniehosen, Spitzenjabot und Dreispitz, und Sarah trug eine prachtvolle Robe aus Seide und Brokat, die sie bei
Schuster & Simon
, dem teuersten Modeatelier im Londoner West End, hatte anfertigen lassen. Ihnen gegenüber saßen die sechs jüngsten Kinder der Familie – die Jungen in blauweißen Matrosenanzügen, die Mädchen in rosa Rüschenkleidern.
    »Das ist der größte Tag in deinem Leben«, sagte Sarah, während sie wie eine Königin über die Menschenmenge blickte. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie stolz ich auf dich bin.«
    »Obwohl ich aussehe wie ein Zirkusdirektor?«, fragte Paxton mit gequältem Lächeln.
    »Von wegen! Der Anzug sieht fabelhaft aus – als wärst du im Hofstaat geboren. Der Prinzgemahl wird vor Neid erblassen.«
    »Ach, Sarah«, sagte er. »Ich hoffe nur, es geht alles gut. So viele Menschen auf einem Haufen – das reinste Pulverfass. Nicht auszudenken, wenn irgendein Verrückter auf den Gedanken kommt, die Leute aufzuhetzen.«
    »Jetzt hör endlich auf, dir Sorgen zu machen. Hast du nicht gestern selbst gesagt, dass die Regierung alle erdenklichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen hat?«
    »Sicher, das hat sie, aber kann man wirklich alles im Voraus bedenken? Ein Funke genügt, und das Pulverfass fliegt in die Luft.«
    Sarah nahm seine Hand und schaute ihn an. »Ist es wirklich das, was dich bedrückt, Joseph?«
    Paxton schüttelte den Kopf. »Ach, natürlich nicht.«
    »Du vermisst Emily, nicht wahr?«
    Statt ihr zu antworten, stieß Paxton nur einen Seufzer aus.
    »Warum ist Emily nicht mitgekommen?«, fragte Georgey undrutschte vor Schadenfreude auf seinem Platz hin und her. »War sie nicht lieb?«
    »Lass das Zappeln und halt deinen Mund«, sagte Sarah streng.
    »Du weißt den Grund ganz genau. Emily ist in Manchester, bei Tante Rebecca.«

2
     
    Geschoben von den Menschenmassen, die alle in dieselbe Richtung strebten, glaubte Emily fast zu ersticken. Am liebsten hätte sie sich ihr gefüttertes Reisekostüm vom Körper gerissen, so heiß wurde ihr inmitten der zahllosen Leiber, doch sie hatte kaum Platz, auch nur die Knöpfe ihres Kragens zu öffnen. Um sie herum wimmelte es wie auf einem Jahrmarkt, das bunteste Menschengemisch, das sie je gesehen hatte: Bauern mit Bibermützen und bestickten Westen, Handwerker in stramm sitzenden Reithosen, Handelsgehilfen in geliehenen Fräcken, rotwangige Frauen in Reifröcken und frisch gestärkten Blusen, Landpfarrer in sackleinenen Soutanen.
    Unwillkürlich tastete Emily nach ihrer Geldbörse, die sie aus Angst vor Taschendieben in den Ärmel ihres Kostüms gesteckt hatte. Sie hatte Hunger, seit dem Abend hatte sie nichts mehr gegessen, aber es war unmöglich, zu einer der Erfrischungsbuden vorzudringen, die entlang des Reitwegs aufgeschlagen waren. Manche Familien hatten offenbar die ganze Nacht im Hyde Park kampiert und bereiteten jetzt ihre Morgenmahlzeit zu. Wasserkessel sangen, Lakaien mit gepuderten Perücken stolperten hilflos übereinander, um ihren Herrschaften Tee zu bringen, vornehme Damen riefen nach Riechwasser und drohten in Ohnmacht zu fallen, während aufgeregte Mütter Brote und Aufschnitt an ihre Kinder verteilten und Säuglinge an ihrenMilchflaschen nuckelten. Voller Neid schielte Emily zu den mit Tüchern verhangenen Kutschen, in denen Inhaber teurer Saison-Tickets genächtigt hatten und aus deren Richtung der Duft von gebratenen Eiern und Speck herüberwehte, so dass ihr das Wasser im Mund zusammen lief.
    »Aaaaahhhhhh …«
    Plötzlich schimmerte das Ziel all der Menschenmassen zwischen den Bäumen hindurch, und über den Laubkronen trat die gewaltige Glaskuppel hervor. Im hellen Glanz der Morgensonne erhob sich der Kristallpalast, strahlend in seiner majestätischen Größe und beflaggt mit Hunderten von Fahnen. Der Anblick ließ Emily alles vergessen. Das großartigste Ereignis der Weltgeschichte, hier und heute fand es statt! Wie hatte sie sich auf diesen Tag gefreut! Doch der Jubel blieb ihr im Hals stecken. Ihre Eltern hatten sie gedrängt, sie zur Eröffnungsfeier zu begleiten, doch lieber würde sie ins Kloster gehen, als an der Zeremonie mit jenen Menschen teilzunehmen, die sich selbst und ihre eigene Idee auf so erbärmliche Weise verraten hatten.
    »Wann kommt endlich die Königin?«
    »Ja, wir wollen die Königin sehen!«
    »Es lebe Königin Victoria!«
    Niemand wusste, dass Emily in London war, und noch vor wenigen Stunden hätte sie selbst nicht geglaubt, dass sie heute hier sein

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