Die Rebellin
Paxton streckte die Hand nach Emily aus. »Du liebst ihn doch, das habe ich gleich bei seinem ersten Besuch gesehen. Du hast vor Freude gestrahlt, als er sich weigerte, meine Steckrüben zu essen.«
»Das … das kann ich nicht glauben!« Emily wich vor ihrem Vater zurück, als habe sie Angst, dass er sie berührte. »Ihr habt gewusst, dass Cole verheiratet ist, eine Frau und Familie und Kinder hat, und trotzdem habt ihr zugelassen, dass ich ihm mein Jawort gebe?«
»So ist das Leben«, sagte Paxton. »Die Natur fragt nicht immer nach unseren Wünschen, sondern trifft oft ihre Entscheidungen ohne uns. Sosehr ich das Schicksal der armen Mrs. Cole bedaure – aber sollten wir etwa dein Lebensglück opfern? Nein, daskonnten wir nicht verantworten. Weder vor dir noch vor unserem Gewissen als Eltern.«
»Ihr habt es gewusst«, wiederholte Emily wie betäubt. »Ihr habt es gewusst und mir trotzdem verschwiegen …«
»Es war das Vernünftigste, was wir tun konnten. Es war doch nur eine Frage der Zeit, bis die Dinge sich von allein regeln würden. Wir wollten dir unnötige Sorgen ersparen.«
»Was meinst du damit – dass die Dinge sich von allein regeln?«
Paxton wich ihrem Blick aus. »Ich glaube, du verstehst mich recht gut.«
»Du meinst, dass Mrs. Cole stirbt? Du meinst, dass wir nur auf ihren Tod warten müssen, damit dieser Mensch und ich …« Während Emily sprach, versuchte sie das Unbegreifliche zu begreifen, doch es war, als gebe es in ihrem Kopf eine Sperre, die verhinderte, dass die Bedeutung ihrer eigenen Worte in ihr Bewusstsein gelangte. »Dieser Mensch hat auf den Tod seiner Frau spekuliert, wie ein Börsenmakler auf fallende Kurse, um mich zu heiraten. Darum hat er den Termin für unsere Hochzeit immer wieder hinausgeschoben. Er hat sich am Leben selbst versündigt – ein schlimmeres Verbrechen kann es gar nicht geben! Und statt dafür zu sorgen, dass dieser Mensch ins Gefängnis kommt, macht ihr euch zu seinem Komplizen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich euch verachte. Pfui Teufel!«
Emily verstummte, ihr fehlten einfach die Worte. Um irgendwas zu tun, fing sie mit hastigen Bewegungen an, die Tabakkrümel, die aus den zerbrochenen Zigaretten gerieselt waren, vom Schreibtisch zu fegen, als wäre das jetzt die wichtigste Aufgabe der Welt, während aus dem Transept gedämpft der Arbeitslärm ins Büro drang.
Doch so plötzlich, wie sie ihre sinnlose Tätigkeit begonnen hatte, hörte sie damit auf. Die ganze Situation kam ihr auf einmal so unwirklich vor wie das Gesicht ihres Vaters. Wer war dieser bleiche, fremde, alte Mann, der da vor ihr stand und die Enden seiner Bartkoteletten strich?
»Ein Wort ist ein Wort«, sagte er, ohne eine Miene zu verziehen, »und Geschäft ist Geschäft!«
»Geschäft?« Emily traute ihren Ohren nicht. »Wie kannst du jetzt vom Geschäft reden?«
»Ganz einfach«, erwiderte er, ohne eine Sekunde mit der Antwort zu zögen, »weil alles im Leben ein Geschäft ist.«
Emily ließ die Arme sinken. Ihr Vater war nur noch eine einzige Mauer, die sich vor ihrer Anklage so uneinnehmbar erhob wie eine Festung. Während er sie durch die Gläser seiner Brille fixierte, spürte Emily, dass jedes weitere Wort, jedes weitere Argument wie eine Seifenblase an ihm zerplatzen würde. Es gab nur noch eine Möglichkeit, in ihn zu dringen.
»Entweder dieser Mensch oder ich«, sagte sie leise.
Sie glaubte, ein Zucken in seinem Gesicht zu erkennen, doch das dauerte nur eine Sekunde.
»So wie du redest«, sagte Paxton kalt, »kann nur jemand reden, der in seinem Leben nie erfahren hat, was Armut heißt. Was du von mir verlangst, wäre mein eigener Ruin. Henry Cole ist für meine Zwecke nicht zu ersetzen.«
»Jeder Mensch ist ersetzbar.«
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Dieser Mann nicht. Wenn Cole ausfällt, ist es das Ende der Midland Railway. Ohne ihn bleiben unsere Züge leer. Hast du eine Vorstellung, was hundert neue Eisenbahnwaggons kosten?«
Die Frage war so erbärmlich, dass Emily keine Antwort darauf geben konnte. »Dann geh und mach deine schmutzigen Geschäfte mit ihm«, sagte sie, »ich kann dich nicht daran hindern. Aber wenn du das tust, bin ich nicht länger deine Tochter.«
Ihr Vater lachte einmal kurz auf. »Ich fürchte, das hängt nicht von deiner Entscheidung ab, mein Fräulein. Meine Tochter bist und bleibst du, solange du lebst. – Natur ist Natur!«
19
In dem großen dunklen Treibhaus war es so still, als wäre die Zeit stehen geblieben. Nur ab
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