Die Rebellin
versuchen, in einem Ameisenhaufen eine bestimmte Ameise aufzuspüren. Sie wusste ja weder, wo er wohnte noch wo er inzwischen arbeitete. Vielleicht war er gar nicht mehr in London, sondern längst in eine andere Stadt gezogen, es gab Handwerksgesellen, die wechselten alle paar Monate den Ort.
Plötzlich hatte sie eine Idee: Toby, der rothaarige Lehrjunge von Mr. Finch! Er hatte sie schon einmal zu Victor geführt … Sie raffte ihre Röcke und überquerte die Straße.
Je weiter sie der Drury Lane in Richtung Themse folgte, umso dreckiger und ärmlicher wurden die Häuser. Vor den Türen und Torwegen türmten sich Berge mit stinkenden Abfällen, und auf der ungepflasterten Straße musste Emily aufpassen, in keinenKothaufen zu treten. Trotzdem war sie heilfroh, dem Exhibition-Spuk zu entkommen. Hier herrschte wenigstens wieder der normale Alltag. Vor einem Schuppen wurde Ingwerbier ausgeschenkt, nebenan dörrten Datteln in der Sonne, Kinder boten Honigkuchen und Schwefelhölzer an. Neben einem fliegenden Buchhändler, der sein Lager vor einer Pfandleihe ausgebreitet hatte, hockte ein Krüppel und reckte Emily glänzende Medaillen entgegen. Sie bückte sich zu dem Mann herab, doch kaum sah sie die Inschriften auf den Münzen, schreckte sie zurück, als hätte sie an einem verdorbenen Stück Fleisch gerochen: Es waren Exhibition-Medaillen.
Die Tür der Druckerei war nur angelehnt. Ohne zu klopfen, trat Emily ein.
»Hallo? Ist hier jemand?«
In der Werkstatt war es so still, dass sie eine Fliege brummen hörte. Kein Mensch war zu sehen, und die Maschinen machten den Eindruck, als hätte schon lange niemand mehr daran gearbeitet.
»Was wollen Sie?«
Aus einer Tür, über der ein Ölbild mit einer Katze hing, kam ein magerer, schwarzbärtiger Mann, der ein Bündel über der Schulter trug und Emily mit nervösen Augen anschaute.
»Ich suche Victor Springfield«, sagte sie. »Er hat früher hier gearbeitet. Können Sie mir sagen, wo er wohnt?«
Der Mann fixierte sie so schamlos, dass Emily sich fühlte, als wäre sie nackt. Unwillkürlich zupfte sie am Ausschnitt ihres Kleides.
»Ich glaube schon«, sagte er. »In der Parker Street ist eine Schneiderei, nicht weit von hier. Die erste Gasse links und dann die zweite rechts, Sie können sie gar nicht verfehlen.«
»Eine Schneiderei?« fragte Emily.
»Wundert Sie das?«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Victor hält sehr auf elegante Kleidung. Fast so sehr wie auf hübsche Frauen.«
Sie überhörte die Anzüglichkeit, und fünf Minuten später stand sie vor dem bezeichneten Haus. Eine Frau, die ungefähr so alt war wie sie selbst, öffnete ihr die Tür. Sie hatte blondes Haar und rosige Wangen. Emily trat instinktiv einen Schritt zurück. »Kommen Sie zur Anprobe?«, fragte das Mädchen.
»Nein«, antwortete Emily. »Man … man hat mir gesagt, dass ich hier vielleicht Victor Springfield finde.«
Das Mädchen schaute sie an. Ihre wasserblauen Augen waren gerötet. Sie sah aus, als hätte sie geweint.
»Sie sind Miss Paxton, nicht wahr?«, sagte sie.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Emily erstaunt.
»Das ist nicht schwer zu erraten«, erwiderte das Mädchen mit einem traurigen Lächeln. »Victor hat die ganze Nacht nur von Ihnen geredet. Obwohl es unsere letzte Nacht war. Er … er muss Sie wirklich sehr lieben.«
5
»Mein Gott«, flüsterte Sarah, als sie mit ihren Kindern in der ersten Reihe der Galerie ihren Platz einnahm.
Aus Schwindel erregender Höhe blickte sie in das Kuppelrund hinab: ein Sommernachtstraum in der Mittagssonne, ein unendliches Meer aus Licht und Weite, in dem sie zu ertrinken glaubte. Über den riesigen, mit frischem Laub bedeckten Ulmen wölbte sich die Kuppel, ein feines Netzwerk symmetrischer Linien, verschwimmend in einem blauen Himmelsdunst. Sarahs Augen liefen über von dem Anblick, ein einziger Rausch von Farben: die bunten Fahnen, die weißen Marmorstatuen, die grünen Pflanzen – das alles hatte ihr Mann erschaffen. Im Schatten der Ulmen, unweit des Brunnens, aus dessen kristallenen Lilienkelchen sich silberne Ströme ergossen, erhob sich der Thron, einZeltdach von azurblauer Seide, ein indischer Königssessel auf einem Stufengebirge persischer Teppiche, umgeben von einem Garten, in dem alles an Düften und Farben wucherte, was auf den fünf Kontinenten der Sonne entgegenwuchs: Zedern aus dem Libanon, Haiden vom Tafelberg, Palmen aus der Südsee, Orchideen vom Amazonas, schwelgend in einem Ozean von grünlichem Licht,
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