Die Rebellin
Kakadu plusterte sich auf, als wäre er stolz auf das neue Wort, das er gelernt hatte. Plötzlich fiel es Emily wie Schuppen von den Augen, Coras sinnloses Gekrächze hatte ihr den Blick geöffnet. Das Geheimnis des Lebens, wie ihr Vater es ihr erklärt hatte, war in Wirklichkeit nichts anderes als seine Gier nach Geld. Geld war ihm wichtiger als alles andere – wichtiger als Moral, wichtiger als Recht, wichtiger als seine eigene Tochter. Alles, was er bisher im Leben getan hatte, hatte er um des Geldes willen getan. Geld hatte ihn stark gemacht, Geld war für ihn der Inbegriff von Macht und Überlegenheit. Und um des Geldes willen hielt er jetzt an einem Mann fest, der bereit war, seine eigene Frau auf dem Altar des Lebens zu opfern, sein künftiges Glück um den Preis zu erkaufen, dass die Mutter seiner Kinder starb.
»Ja, Emily, das muss so sein, auch wenn es uns grausam vorkommt. Stell dir die Natur wie einen weise regierten Staat vor, und die starken Tiere darin als die Polizisten oder Soldaten. Sie hindern die schwachen Tiere daran, sich allzu sehr zu vermehren, und räumen sie fort, bevor sie sich selbst oder anderen Geschöpfen zur Last fallen. Nur so bleibt das Gleichgewicht der Schöpfung bestehen.«
Ein Blütenblatt sprang auf, ein zweites, ein drittes, und ein makelloses Weiß quoll hinaus in die Dunkelheit. Wie oft hatteEmily diesen Vorgang beobachtet, und doch war es jedes Mal aufs Neue ein Wunder, wie das Leben im Innern der Kapsel danach drängte, sich aus der Umklammerung zu befreien, beseelt von jener Ungeduld, die allem Wachsen und Gedeihen innewohnte. Sie hatte sich immer dieser Blume verwandt gefühlt, wie einem vertrauten Menschen, der einen das Leben lang begleitet und so zum Teil der eigenen Existenz wird. Aber diesmal kamen ihr Fragen, die ihr noch nie gekommen waren. Auf welchen dunklen Pfaden der Natur war die
Victoria regia
ins Dasein getreten? Welche Arten hatte sie im Laufe der Jahrtausende verdrängt, um die Königin aller Seerosen zu werden? Welche Pflanzen waren um ihretwillen vom Antlitz der Erde verschwunden? Auf einmal erschienen Emily die Blüten und Blätter in dem Teich wie übergroße Wucherungen, nicht kraftvoll und mächtig und stark, sondern krank, falsch, pervers – geilende Unwirklichkeit, der Natur entwurzelt, durch menschliche Züchtung auf groteske Weise entstellt und verzerrt.
Entsetzt von dem Anblick barg sie ihr Gesicht in den Händen. Modergeruch stieg von den Sumpfblüten auf – der faule, süßliche Atem des Todes.
VIERTES BUCH
In der Unterwelt
Sommer 1851
1
Obwohl der erste Mai des Jahres 1851 ein gewöhnlicher Werktag war, hatten fast alle Läden in London geschlossen, und die Büros und Handelskontore lagen ebenso verlassen da wie die Werkstätten und Manufakturen. Auf den Straßen und Plätzen aber herrschte ein Andrang, wie es seit der Krönung Königin Victorias keinen mehr in der Hauptstadt gegeben hatte. Alle Staatsgebäude waren mit Fahnen geschmückt, Glocken läuteten von den Kirchtürmen, und eine schier unüberschaubare Menschenmasse wogte in Richtung Hyde Park. Denn das Wunder, dem die Nation seit Monaten entgegenfieberte, der Traum, der die besten Kräfte des Landes vereinte, um vor Gott und der Welt die Herrlichkeit des Jahrhunderts sowie die Größe des britischen Empires zu bezeugen, war zahllosen Widrigkeiten, Zweifeln und Anfeindungen zum Trotz Wirklichkeit geworden: Die »Weltausstellung aller Nationen und Völker«, die erste
exposition universelle
der Menschheitsgeschichte, öffnete ihre Pforten!
Als wolle der Himmel selbst das Ereignis segnen, schien dies nach Wochen mit Regen, Wind und Sturm der erste Frühlingstag zu sein. Zwar war die Luft noch kühl, als am frühen Morgen die Völkerwanderung einsetzte, doch eine freundliche Brise riss bald schon die Wolkendecke auf, und die Sonnenstrahlen brachen sich Bahn, um gegen neun Uhr bereits auf eine halbe Millionen Menschen herabzuscheinen, die sich im Hyde Park drängte. Die Bäume waren schwarz von Schaulustigen, in den Kronen stritten sich erwachsene Männer mit ihren Söhnen um die besten Plätze. Denn um zwölf Uhr würde die Königin erscheinen, zusammen mit Prinzgemahl Albert, und das wollte sich niemand entgehen lassen.
»Hoh! Hüh! Platz da!«
Der Himmel hatte sich fast vollständig gelichtet, als die Kutsche von Joseph und Sarah Paxton, eskortiert von berittenen Gardisten, sich einen Weg durch das Gewühl bahnte. Paxton hatte zur Feier des Tages die offizielle
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