Die Rebellin
lassen, durch seinen Ehrgeiz, durch seinen Hunger auf gesellschaftliche Anerkennung, durch seine verfluchte Liebe zu Emily, lastete auf seiner Seele wie ein Alptraum, aus dem es nur einen Ausweg gab: Er würde Marian von nun an ein so guter Ehemann sein, wie es ihm möglich war, und alles daransetzen, dass sie wieder gesund wurde – ganz gleichgültig, wie aussichtslos der Versuch sein sollte. Die wortlose Liebe, mit der Marian ihn jetzt umsorgte, ihr stummes Verzeihen, das ihn viel schwerer traf als jeder Vorwurf, nahm er dabei als gerechte Strafe für seine Verfehlung hin.
»Ich fürchte, ich muss langsam los«, sagte er und knöpfte sich die Weste zu. »Sonst fangen sie noch ohne mich an.«
Marian begleitete ihn zur Tür. Als er sich von ihr verabschiedete, hatte sie Tränen in den Augen. »Ich bin Gott so dankbar, dass ich diesen Tag noch erleben darf«, flüsterte sie. »Wenn ich heute sterben müsste, ich glaube, ich wäre die glücklichste Frau der Welt.« Cole war unfähig, ihr eine Antwort zu geben – zu groß war der Kloß in seinem Hals.
»Jetzt aber los!« Mit einem Lächeln drängte Marian ihn hinaus.
»Königinnen warten nicht.«
»Und ob sie das tun!«, erwiderte er mit rauer Stimme. »Das wirst du noch sehen.«
»Ich, Henry? Wie denn das?«
»Ganz einfach, mein Engel«, sagte er. »Die Schlussfeier besuchen wir zusammen, und die Queen wird am Thron auf dich warten, um dir die Hand zu reichen.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Das verspreche ich dir, so wahr ich Henry Cole heiße.«
4
»Euston Station!«
Emily warf sich in das einzige Cabriolet, das sie in dem Tohuwabohu vor dem Kristallpalast fand. Die Demütigung durch den Lakaien ihres Vaters hatte sie so wütend gemacht, dass sie unmöglich bis zum Abend warten konnte, um die Stadt zu verlassen. Was für eine Frechheit, ihr die Tür zu dem Gebäude zu weisen, das ohne sie niemals entstanden wäre! Wie die Bilder einer verrückt gewordenen Laterna magica flammten die Erinnerungsfetzen in ihr auf. Henry Coles Begeisterung, als er ihr von seiner Vision erzählte … Die Verzweiflung ihres Vaters, als er um einen Entwurf für den Pavillon rang … Emily musste sich fast übergeben. Selbst London, die größte Stadt der Welt, war zu klein für sie und diese Menschen! Lieber wollte sie ihr Leben lang Tante Rebeccas alte Kekse essen, als noch eine Stunde dieselbe Luft zu atmen wie sie.
»Worauf warten Sie? Fahren Sie endlich los!«
»In Ordnung, Miss.« Der Cabman schob sich den Hut in den Nacken und griff nach den Zügeln. »Aber ich sag Ihnen gleich, wir müssen einen ziemlichen Umweg machen. Die Park Lane ist verstopft wie eine öffentliche Latrine.«
Er ließ die Peitsche knallen, ein paar Fußgänger sprangen beiseite, doch die Gasse, die sich für einen Moment öffnete, füllte sich sofort wieder mit Menschen. Nur im Schneckentempo kamen sie in dem Gewühl voran, das sich erst am Piccadilly Crescent ein wenig lichtete. Ganz London lag im Taumel, das Ausstellungsfieber hatte die Stadt wie eine Epidemie erfasst, und die Händler priesen ihre Waren mit dem einen, immer wieder selben Wort an:
Exhibition!
Von allen Seiten tönte es Emily entgegen, wie um sie zu verhöhnen: Exhibition-Hüte, Exhibition-Zigarren, Exhibition-Schnürriemen, Exhibition-Puddings, Exhibition-Tee …
Auf einmal tauchte ein Gebäude vor ihr auf, groß und erhaben wie ein Mahnmal: das Drury-Lane-Theater. Der Anblick der Fassade berührte sie wie ein stummer, Stein gewordener Vorwurf. Hier war sie mit Victor verabredet gewesen, an einem Sonntagmorgen, zum allerletzten Mal. Sie war nicht zu der Verabredung erschienen. Was musste er nur von ihr denken?
Bei der Vorstellung klopfte ihr Herz. Victor war der einzige Mensch, den sie in dieser Stadt noch einmal sehen wollte. Der einzige Mensch, zu dem sie Vertrauen hatte. Der einzige Mensch, den sie achtete und schätzte. Der einzige Mensch, den sie …
Sie blickte auf die Uhr über dem Theaterportal. Ihr Zug fuhr in einer Stunde. Ob sie doch den Nachtzug nehmen sollte?
»Halten Sie an!«
»Aber warum, Miss?« Der Cabman drehte sich verwundert zu ihr um. »Ich schätze, der Verkehr löst sich gleich auf. In zehn Minuten sind wir am Bahnhof.«
»Trotzdem! Ich habe es mir anders überlegt!«
Emily stieg aus und gab dem Kutscher einen Schilling. Doch als der Wagen davonrollte, wurde ihr die Sinnlosigkeit ihres Vorhabens bewusst. Wie um alles in der Welt sollte sie Victor finden? Genauso gut konnte sie
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