Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
strich über ihr Haar, ihre Wange, so leicht, dass er sie kaum berührte. Ihr Gesicht sah so zerbrechlich aus, ihre Haut war wie Porzellan im Vergleich zu der rauen, schwieligen Haut seiner eigenen Hand, in deren Poren immer noch Spuren von Druckerschwärze eingefressen waren. Er räusperte sich und sagte: »Ich hatte immer geglaubt, dass wir uns kennen, Emily. Weil wir als Kinder so oft zusammen waren. Aber das bedeutet viel weniger, als ich dachte. In Wirklichkeit weiß ich kaum was von dir – eigentlich gar nichts.«
    »Und was weiß ich von dir?«, erwiderte sie. »Ich … ich hätte dich so gerne kennen gelernt. Ich meine,
richtig
kennen gelernt.«
    Vom Fluss her ertönte das lang gedehnte Tuten eines Schiffes. Emily zuckte zusammen.
    »Musst du aufbrechen?«, fragte sie.
    Victor schüttelte den Kopf. »Noch nicht, erst in ein paar Stunden. Warum … warum fragst du?«
    Sie zögerte eine Weile, dann sagte sie: »Wenn ich dich bitten würde, mich mit nach Amerika zu nehmen – würdest du es tun?« Er war so überrascht, dass er laut auflachte. »Willst du dich über mich lustig machen?«
    »Nein, Victor. Aber – was soll ich noch hier?«
    »Du weißt nicht, was du da sagst«, erwiderte er, als er ihr ernstes Gesicht sah. »Amerika … das ist etwas anderes, als wenn du dich in Chatsworth in einen Zug setzt und kommst ein paar Stunden später in London an, wo dich ein Butler vom Bahnhof abholt. Du müsstest alles aufgeben, woran du gewöhnt bist, das Geld deiner Eltern, die schönen Kleider, dreimal am Tag essen, so viel du willst …«
    »Du willst damit sagen, du traust es mir nicht zu?«
    »Ich weiß nicht, vielleicht«, stammelte er. »Herrgott nochmal, Emily, du kommst einfach her und …«
    »Was ist es dann?«, fiel sie ihm ins Wort. »Warum willst du mich nicht mitnehmen?«
    Victor holte tief Luft. »Ganz ehrlich?«, fragte er.
    Emily nickte. »Ganz ehrlich.«
    Er gab sich einen Ruck. »Also gut«, sagte er dann. »Es ist, weil – immer, wenn ich mit dir zu tun hatte, bekam ich anschließend die Quittung dafür. Erst haben mich deine Eltern aus Chatsworth gejagt, dann habe ich die Arbeit auf der Baustelle verloren. Es ist wie ein Fluch, fast, als hätte meine Mutter Recht.«
    »Was hat deine Mutter damit zu tun?«
    »Sie hat mich vor euch gewarnt. Die Paxtons sind wie faule Äpfel, hat sie gesagt, und wer mit ihnen in Berührung kommt, der …« Er sprach den Satz nicht zu Ende.
    Emily nickte. »Und du, glaubst du das auch?«
    Victor zuckte mit den Schultern.
    Sie dachte einen Moment nach, dann fasste sie einen Entschluss.
    »Komm!«, sagte sie.
    Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum und ging hinaus auf die Straße. Victor folgte ihr nach. Draußen blickte sie sich kurz um, als müsse sie sich orientieren, dann überquerte sie die Gasse und lief in die Richtung von Covent Garden. Beim Theater bog sie in die Drury Lane ein. Was in aller Welt wollte sie hier? Wollte sie in seine alte Werkstatt? Doch die Druckerei war nicht Emilys Ziel, im Laufschritt passierte sie das verkommene Gebäude, eilte weiter in Richtung Oxford Street und blieb dann vor einem ziemlich schäbigen Geschäft stehen, vor dessen Schaufenster ein Krüppel irgendwelche Souvenirs verkaufte. Über dem Eingang des Ladens hing eine alte, verblasste Holztafel: drei rote Kugeln auf blauem Grund – das Wahrzeichen der Londoner Pfandleiher.
    »Was hast du vor?«, fragte Victor.
    Emily streifte sich die Ohrringe ab. »Die hat mir mein Vater zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Jetzt können sie mir endlich nützen. Warte, ich bin gleich wieder da.
    « Bevor er etwas sagen konnte, verschwand sie durch die niedrige Ladentür. Durch die fleckige Fensterscheibe hindurch sah Victor, wie sie einen dunklen Raum betrat, dessen Wände bis zur Decke mit Regalen voller Geschirr und Kleider, Bücher und Bettzeug zugestellt waren. Dazwischen tauchte ein älterer, silberhaariger Mann in einem eleganten Schlafrock auf. Während er sich mit einem Lächeln verbeugte, legte Emily die Ohrringe auf den Ladentisch. Der Mann klemmte sich eine Lupe vors Auge und hielt sie gegen das Licht. Nachdem er ein paar Worte mit Emily gewechselt hatte, ließ er den Schmuck in einer Kassette verschwinden und zählte mehrere Banknoten ab.
    »Was meinst du«, sagte Emily, als sie wieder auf die Straße kam und Victor die Scheine zeigte. »Reicht das für ein Ticket nach Amerika?«
    Es verschlug ihm die Sprache. »Soll das heißen«, stotterte er,
    »du … du willst

Weitere Kostenlose Bücher