Die Rebellin
kaum größer als ein Kind, hatte sich vorgekämpft, um sich vor der Queen auf den Boden zu werfen.
»Was für eine reizende Geste.«
Lächelnd winkte Victoria die Soldaten und Polizisten zurück, die den Mann fortzerren wollten, und nahm die Huldigung entgegen.
Feldmarschall Wellington lachte als Erster, und bald löste sich die Spannung in allgemeiner Heiterkeit auf. Prinz Albert schüttelte erleichtert den Kopf, und sogar die Zeremonienmeister konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen, als der kleine Chinese sich wieder erhob.
»Bitte fahren Sie fort, Mr. Cole«, sagte die Königin. »Tun wir einfach so, als wäre nichts geschehen.«
8
Breit und rund wie der Rücken eines alten Lastenträgers spannte sich die London Bridge über die Themse. Emily stand mit Victor auf einer der steinernen Kanzelvorsprünge, die entlang des hohen Geländers in regelmäßigen Abständen über den Fluss ragten, und blickte auf die schwarzen Fluten, die sich träge durch die Nacht wälzten. Am Ufer drängte sich ein Wald von Schiffsmasten, hinter dem sich in der Ferne dunkel der Tower erhob, ein machtvoller, Furcht einflößender Hüter der schlafenden Stadt, über der auch bei Nacht noch ein Baldachin von schwarzem Qualm zu wogen schien, der unablässig aus den Schornsteinen zu beiden Seiten des Stromes in den Himmel aufstieg. Hinter der Festung, jenseits der St.-Katharinen-Kais und Westindien-Docks, verließ gerade ein schwer beladener Fünfmaster den Hafen von Bugsbys Reach, um die Flut zum Auslaufen zu nutzen.
»Das muss die
Welfare
sein«, sagte Victor.
»Bereust du, dass du nicht auf dem Schiff bist?«, fragte Emily.
»Auf einem Frachter? Mit dir?« Victor grinste sie an. »Wo hätten wir da deine Hutschachteln unterbringen sollen?«
»Bitte, Victor, mach dich jetzt nicht lustig über mich.«
»Hab keine Angst, wir werden schon bald ein Schiff für uns finden, am besten einen Passagierdampfer. Das Geld vom Pfandleiher reicht sicher für die Überfahrt, und ich kann als Heizer arbeiten. In den Zeitungen werden immer wieder welche gesucht.«
Ein kühler Wind strich über das Wasser. Emily hätte sich gern an Victors Schulter geschmiegt, aber sie traute sich nicht. Stattdessen schlug sie nur den Kragen ihres Kostüms hoch. Zu Füßen der steinernen Kanzel, auf der schwarzen Fläche der Themse, schäumte ein Strudel auf, mit weißlich tanzender Gischt, der sie auf seltsame Weise in seinen Bann zog. Für einen Moment überkam sie eine aberwitzige Lust, sich einfach in die Dunkelheit fallen zu lassen.
»Erzähl mir von Amerika«, sagte sie.
»Wie wir drüben ankommen?«
Emily nickte, und während sie der
Welfare
nachschaute, deren Segel sich in der Ferne blähten, hörte sie Victors sichere, ruhige Stimme.
»Hab keine Angst«, sagte er. »Es wird alles gut, ich weiß es genau. Als Erstes suche ich Arbeit. Das wird überhaupt nicht schwer sein, Drucker werden in Amerika überall gebraucht. Die Amerikaner haben ja die Pressefreiheit erfunden, die verzichten lieber aufs Frühstück als auf ihre Zeitung. Ich bin sicher, dass ich genug für uns beide verdiene. Auf jeden Fall genug, dass wir uns jeden Tag Griebenschmalz mit Apfelkraut leisten können.«
Die Erinnerung an die Vesperbrote ihrer Kindheit in Chatsworth tat Emily gut. »Und wo werden wir wohnen?«, fragte sie.
»In New York gibt es Ankunftslager für Einwanderer. Da können wir unterkommen, bis wir was Besseres haben.« Er zögertekurz,dann fügte er hinzu. »Falls du dir darum Sorgen machst, ich meine, wegen der Unterkunft – das musst du nicht. Ich … ich habe gehört, die Lager sind nach Männern und Frauen getrennt.«
Emily spürte, wie sie rot wurde. Zum Glück konnte Victor das in der Dunkelheit nicht sehen. »Ich würde auch gerne arbeiten«, sagte sie, »damit ich wenigstens das Apfelkraut beisteuern kann. Aber ich habe ja nichts gelernt. Vielleicht finde ich eine Stelle als Kellnerin, oder als Dienstmädchen bei reichen Leuten. Ich kann ganz passabel kochen, sogar meine Mutter lobt meine Saucen.«
»Du als Dienstmädchen?«, rief Victor. »Das kommt gar nicht in Frage!«
»Aber irgendwas muss ich doch tun, um Geld zu verdienen.«
»Ja, aber etwas, was du kannst.«
»Und was soll das sein?«
»Deine Zeichnungen! Darin bist du besser als alle anderen. Glaub mir, davon verstehe ich was. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn du damit kein Geld verdienst.«
»Meinst du wirklich?«
»Ganz bestimmt! Und später, wenn wir erst mal richtig Fuß
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