Die Rebellin
ihre weiße, saubere Wäsche, für die sie in der ganzen Gegend zwischen Charing Cross und Waterloo Bridge berühmt war. Sie kam, um das Bettzeug mitzunehmen.
»Haben Sie sich das auch gut überlegt?«, fragte sie, während sie die abgezogene Wäsche zu einem Paket stapelte. »Das ist ja eine Entscheidung fürs ganze Leben.«
»Ich weiß«, erwiderte Victor nur.
»Nein, man kann nie wissen.« Mrs. Bigelow wackelte mit dem Kopf. »Wenn Sie es sich anders überlegen, können Sie ja wiederkommen. Ich habe immer ein Zimmer für Sie frei.« Sie drückte ihn kurz an sich und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Gott möge Sie beschützen!«
Mit dem Bettzeug unter dem Arm verließ sie die Kammer. Victor trat an die Wand, um das Bild abzunehmen. Es war eine Erinnerung, immerhin, und wenn er es sorgfältig verpackte,würde es die Reise überstehen. Er nahm die
Illustrated London News
vom Tisch, die er am Vortag gekauft hatte. Auf der Titelseite war der Kristallpalast abgebildet, beflaggt mit den Fahnen aller an der Weltausstellung beteiligten Nationen. Er riss den Bogen entzwei, schlug die Zeichnung darin ein und legte sie zwischen zwei Hemden.
Mehr hatte er nicht mehr zu tun. Jetzt konnte er gehen.
»Darf ich reinkommen?«
Als er die Stimme hörte, fuhr er herum.
»Emily? Du?«
Sie stand in der offenen Tür. Die Sonne strahlte in ihrem Rücken, sodass ihre Silhouette von einem leuchtendem Schein umgeben war, in dem unzählige Staubkörnchen flimmerten. Victors Herz machte vor Freude einen Sprung. Doch dann erinnerte er sich an die fremde Frau am Drury-Lane-Theater, die er mit Emily verwechselt hatte, an die demütigende Mischung von Verärgerung und Verwunderung in dem vornehmen Gesicht, und die ganze Enttäuschung, die ganze Wut jenes Augenblicks war wieder da.
»Was willst du hier?«, fragte er. »Ich dachte, du bist im Hyde Park, bei deinem Vater. Und bei deinem Freund, dem Prinzgemahl.«
»Ich war im Hyde Park«, sagte sie. »Und auch am Kristallpalast. Aber – sie haben mich nicht reingelassen.«
»So, tatsächlich? Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?«
»Bitte, Victor, mach es mir nicht so schwer. Ich … ich wollte dir sagen, dass ich dich nicht im Stich gelassen habe. Ich konnte damals zu unserer Verabredung nicht kommen.«
»Um mir das zu sagen, hast du dich hierherbemüht?«
Emily nickte. Victor hätte sie am liebsten genommen und geschüttelt und ihr ins Gesicht geschrien, wie enttäuscht und wütend er gewesen war. Aber wozu? Er war damals vom Drury-Lane-Theater direkt zu Fanny gegangen. Sie hatte sich vor ihm niedergekniet und seinen Hosenlatz geöffnet und nicht eheraufgehört, als bis keine Gefühle mehr in ihm waren. Die Erinnerung daran half ihm, das wortlose Schweigen zu ertragen, das jetzt in der Kammer entstand und in seinen Ohren dröhnte wie eine vorbeidonnernde Lokomotive.
Emily deutete auf seinen Kleidersack. »Willst du verreisen?«
»Ja, ich habe auf einem Frachter angeheuert. Das Schiff läuft heute Abend aus. Nach Amerika.«
»Nach Amerika? Aber da kennst du doch keinen Menschen!«
»Vielleicht ist das der Grund, warum ich dorthin will.«
Emily biss sich auf die Lippen. »Du willst ein neues Leben anfangen, nicht wahr?«
»Wenn du es so nennen willst, von mir aus. Mein altes werde ich jedenfalls nicht vermissen.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
»Dann … dann wünsche ich dir viel Glück. Vielleicht geht es dir dort ja besser als hier.«
Er zögerte, ihre Hand zu nehmen, doch als er es schließlich tat, musste er für eine Sekunde die Augen schließen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Die harmlose Berührung genügte, dass er alles vergaß, was sie ihm angetan hatte, und er nur noch den Wunsch hatte, dass sie bei ihm blieb.
»Und du?«, fragte er und ließ ihre Hand wieder los.
»Ich? Was soll mit mir sein? Ich verreise nach Manchester, zu meiner Tante. Wahrscheinlich werde ich den ganzen Sommer über bei ihr bleiben. Sie ist meine Taufpatin und kränkelt ein bisschen und braucht Hilfe. Außerdem haben wir uns schon lange nicht mehr gesehen, und … und ich vermisse sie.« Emily verstummte und schlug die Augen nieder, offenbar hatte sie alles gesagt. Dann aber hob sie den Blick, ihr Unterkiefer zitterte, und auf einmal brachen die Worte nur so aus ihr heraus: »Ach, Victor, das ist ja alles nicht wahr. In Wirklichkeit will ich gar nicht zu meiner Tante, und sie ist auch nicht krank und braucht auch keine Hilfe. Ich fahre nur
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