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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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das im Zittern des durchsichtigen Laubes sich zu kräuseln schien. Eine hörbare Stille erfüllte das weite Rund, als würde die Weltgeschichte den Atem anhalten.
    Plötzlich ertönten Fanfaren. Die goldene Pforte am Ende des Transepts flog auf, Hochrufe aus vielen tausend Kehlen ertönten, und an der Seite des Prinzgemahls, gefolgt von ihren Kindern und dem Hofstaat, betrat Queen Victoria die Halle, um durch das Spalier der ausländischen Gesandten zu schreiten: dunkelhäutige indische Fürsten mit Turbanen und Juwelen auf der Stirn, fahle chinesische Mandarine in kostbar bestickten Seidengewändern, kleine japanische Potentaten mit undurchsichtigen Mienen, wollköpfige afrikanische Häuptlinge in bunten Umhängen. Eine Orgel präludierte die Nationalhymne, und während die Königin die Stufen des Thrones bestieg, fiel ein gewaltiger Chor, der sämtliche Männerstimmen Londons zu vereinen schien, in das Brausen der Orgel ein, sodass bald darauf der ganze Kristallpalast davon widerhallte.
    »God save our gracious Queen, long live our noble Queen …«
    Als die Königin unter dem Baldachin ihren Platz auf dem Thronsessel einnahm, verstummte der Chor und feierliche Stille trat ein. Prinz Albert verlas einen Bericht der Königlichen Kommission, auf den die Queen mit einem kurzen Dank antwortete.
    Dann erhob sich der Erzbischof von Canterbury, eingepackt in zwei weiße Puderärmel, und sprach ein Gebet, in dem er den Himmel um Beistand für das große Unterfangen bat: »Möge diese Weihe der Pracht der Erde ein Weltopfer sein.« Ohne dass sie es merkte, faltete Sarah die Hände und murmelte die Worte mit, die der Bischof zusammen mit den Ehrengästen sprach:
    »Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden …«
    Erneute Fanfarentöne holten sie in die Wirklichkeit zurück.
    »Da!«, rief Georgey. »Da kommt Papa!«
    Sarah griff nach der Hand ihres Sohnes. Der große Augenblick war da, der Augenblick, für den sie lebte, seit sie Joseph Paxton zum ersten Mal begegnet war. Eine vielköpfige Prozession von Würdenträgern bewegte sich auf den Thron zu, angeführt von ihrem Ehemann, der in seinem Hofstaat aussah wie ein Earl oder Lord mit einem Stammbaum von fünfhundert Jahren. Wie ein Meer teilte sich die Menge vor ihm, und die Mitglieder der Regierung, die Vertreter des Oberund Unterhauses, die Funktionsträger der Königlichen Kommission, das diplomatische Korps mit Gesandten aus über hundert Ländern – sie alle folgten ihm nach, wie einst das Volk Israel Moses durch das Rote Meer gefolgt war.
    Wieder brauste die Orgel auf, der »Messias« von Händel ertönte, und der Chor erscholl zu einem mächtigen Halleluja, das Sarah wie eine Woge erfasste. Da traf ihr Blick die Augen, in die sie schon so oft geschaut hatte, zwei dunkle, ruhige Augen, und Joseph verbeugte sich vor ihr, als wäre sie die Königin. Mit einem zärtlichen Lächeln erwiderte sie seinen Gruß. Ja, sie hatte es immer gewusst, schon als er noch ein einfacher Gärtner gewesen war, mit Erdkrusten an den Händen und Holzpantinen an den Füßen, hatte sie sein Genie erkannt, das ihn zu wirklich Großem befähigte. Und obwohl sie in den Jahren ihrer Ehe so manches Mal unter ihm gelitten hatte, unter seinen Affären genauso wie unter seiner Liebe zu Emily, würde sie doch mit keiner Frau der Welt tauschen. Es konnte kein größeres Glück für sie geben, als das Leben mit diesem Mann zu teilen.

6
     
    Victor öffnete den Kleidersack und warf die wenigen Habseligkeiten hinein, die er auf die Reise mitnehmen wollte: eine Jacke, zwei Hosen, etwas Wäsche und ein paar Bücher. Er war in Eile, am Abend würde er schon nicht mehr in London sein.
    Noch einmal schaute er sich in der Dachkammer um. Ein Tisch, ein Stuhl, das abgezogene Bett – das war alles, was er zurückließ. An der Wand hing ein Bild: die Zeichnung, die Emily von ihm gemacht hatte. Er saß auf einem Stapel Eisenträger im Hyde Park und blickte in die Ferne, als würde er auf jemanden warten. Seine Gesichtszüge erkannte er so deutlich wieder wie in einem Spiegel. Trotzdem log die Zeichnung – die Narbe auf seiner Stirn fehlte. Sollte er das Bild trotzdem mitnehmen?
    Es klopfte an der Tür.
    Eine kurze, unsinnige Hoffnung flackerte in Victor auf. Doch herein kam nur Mrs. Bigelow, seine Zimmerwirtin, deren helles, gutmütiges Gesicht unter der frisch gestärkten Haube vor Reinlichkeit zu duften schien wie

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