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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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wirklich mit mir kommen?«
    »Ja, Victor.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und schaute ihn an, mit ihren klaren, türkisgrünen Augen. »Oder vertraust du mir immer noch nicht?«
    Victor musste schlucken. Wie oft war er in diesen Augen ertrunken … Statt einer Antwort nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie.

7
     
    Henry Cole war beinahe glücklich. Vergessen war die Schande seiner Verfehlung, vergessen auch die Entsagung seiner Liebe, vergessen sogar die Aussprache mit Joseph Paxton, die ihm noch bevorstand – hier und jetzt zählte nur sein Lebenswerk, seinKristall gewordener Lebenstraum. Denn Henry Cole, der bis vor nicht allzu langer Zeit noch ein kleiner Beamter des Staatsarchivs gewesen war, ein Nichts im großen Getriebe der Regierung, führte Queen Victoria, die bedeutendste Herrscherin der Welt, durch den Kristallpalast, um ihr die Glanzlichter seiner Ausstellung zu zeigen, zusammen mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern sowie all den hochwohlgeborenen und hochmütigen Mitgliedern ihrer Entourage, den Zeremonienmeistern und Kammerdamen, den Hofchargen und Ehrenfräulein, den Leibgardisten und Garderobenmeisterinnen, die einen Menschen wie ihn unter gewöhnlichen Umständen keines Blickes gewürdigt hätten und nun an seinen Lippen hingen, als verkünde er die Worte der Offenbarung. Zum vollkommenen Glück fehlte ihm nur, dass Marian ihn sah. Das wäre die beste Medizin für ihre Genesung gewesen – besser noch als die wöchentlichen Ballonfahrten mit Mr. Green.
    Viele Tage hatte Henry Cole darauf verwandt, eine Route für die Führung zu ersinnen, die der Königin einen möglichst umfassenden Eindruck von dem Reichtum seiner Ausstellung vermittelte. Um sich selbst mit den unzähligen Exponaten vertraut zu machen, hatte er fast jeden der sechstausendeinhundertsechsundvierzig Stände besichtigt und sich die wichtigsten Stücke persönlich erklären lassen, damit keine Besonderheit, keine Kuriosität und keine Sensation seiner Aufmerksamkeit entging. In der Fülle konnte ein Unkundiger sich verirren wie ein Entdecker in einem Dschungel, denn es schien ein unentwirrbares Labyrinth von Rohstoffen und Naturprodukten, von Manufakturwaren und Kunstwerken zu sein. Doch unter seiner Führung verwandelte sich der Rundgang in eine Promenade durch das irdische Paradies, mit all den Wundern der Erde, die er, Henry Cole, an diesem einen Ort versammelt hatte. Wie ein Herrscher in seinem Reich präsentierte er der Königin den geheimnisvoll funkelnden Kohinoor, den größten Diamanten der Welt, kostbare Stoffe und Geschmeide, Gemälde und Skulpturen,
    Eskimohütten und Elfenbeinschmuck, Mittelalterburgen und Fürstenbetten, Präzisionsuhrwerke und Wahlzettelzählapparate, Dampfmaschinen und Kanonen … Während die Menschen ihnen von den Galerien aus zujubelten, wo immer sie erschienen, wich Königin Victoria, ihren neunjährigen Sohn fest an der Hand, nicht von Coles Seite, um keine seiner Erklärungen zu verpassen, und reagierte auf jedes Exponat mit immer wieder neuen Ausrufen der Begeisterung – voller Bewunderung für den Einfallsreichtum englischer Ingenieurskunst, voller Entzücken über die Eleganz französischer Luxuswaren, voller Respekt vor den Erzeugnissen deutscher Tüchtigkeit, voller Staunen über die verschwenderische Pracht des Orients und voller Zweifel angesichts der amerikanischen Neuerungswut in nahezu allen Dingen, die es zu erfinden gab.
    »Was bedeuten diese Figuren?«, fragte die Königin, als sie wieder in der englischen Sektion angekommen waren, und zeigte auf eine marmorne Skulpturengruppe.
    »Der Sieg des Herrn über den Satan«,
antwortete Henry Cole.
    »Ein Werk von Mr. Lough.«
    »Sehr schön.« Victoria nickte zufrieden. »Es erinnert mich an das Motto, das Prinz Albert unserer Ausstellung gab. Wie hieß es noch gleich?«
    »Die Erde aber ist Gottes, und alles, was darin …«
    Plötzlich geriet er ins Stottern. Hinter der Königin sah er Joseph Paxton, der aufgeregte Zeichen machte.
    »Aber was haben Sie, Mr. Cole?«, fragte Victoria. »Ist Ihnen nicht gut?«
    Bevor er der Königin antworten konnte, wurden rings herum Rufe laut, Frauen und Männer drängten durcheinander, Soldaten stürzten vor, Polizisten, und eine Stimme rief: »Feuer!« Cole fuhr entsetzt herum.
    War das die Katastrophe, vor der Colonel Sibthorp gewarnt hatte?
    »Lang lebe die Königin!«, rief eine helle, fremdländische Stimme.
    Da entdeckte er die Ursache der Panik. Ein kleiner Chinese,

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