Die Rebellin
die Lippen führte.
»Das Eröffnungs-Tamtam war ja ganz nett«, sagte Paxton, »aber um wirklich offen zu sein – der wirtschaftliche Erfolg der Ausstellung steht nach wie vor in den Sternen. Trotz des Exhibition-Fiebers sind die Ticket-Buchungen weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben, kaum mehr als ein paar Hundert Leute verirren sich pro Tag in den Kristallpalast. Wenn sich daran nicht schleunigst etwas ändert, gondeln die Züge der Midland Railway bis zum Ende der Ausstellung halb leer durchs Land. Schuld daran sind die verflucht hohen Eintrittspreise, die auf die einfache Bevölkerung abschreckender wirken als alle Chartisten und Revolutionäre zusammen. Aber jetzt, mit der Zusage des Prinzgemahls, die Schillingstage einzuführen, haben wir die Chance, die Sache zu retten. Und genau dafür brauche ich Sie.«
»Bitte sprechen Sie weiter«, sagte Cole, immer noch unschlüssig, wie er die Situation einschätzen sollte. Hegte Paxton wirklich keinerlei Groll gegen ihn? Oder führte er ihn nur an der Nase herum?
»Wir müssen die Wende schaffen, mein Freund«, sagte Paxton. »Rühren Sie noch einmal die Werbetrommel! Setzen Sie sich mit Mr. Cook in Verbindung! Mobilisieren Sie die Arbeitervereine! Einen Schilling Eintritt kann sich jeder leisten. Ich will, dass alle gottverdammten englischen Arbeiter nach London kommen, um sich die Produkte ihres Fleißes anzusehen! Bieten Sie Pauschalreisen an, Sonderangebote, Rabatte, was auch immer! Lassen Sie sich was einfallen!«
Aus dem Stegreif entwickelte Paxton einen ganzen Schlachtplan. Über eine Viertelstunde sprach er von Fahrplänen und Verbindungen, von Hotels und Führungen, von Einzelreisenund Gruppentarifen. Doch kein einziges Mal erwähnte er seine Tochter Emily. Cole wusste nicht, ob er Paxtons Fähigkeit, Berufliches und Privates auf so radikale Weise voneinander zu trennen, bewundern oder verachten sollte. Doch eins stand jedenfalls fest: Er selbst würde seine Ämter behalten. Und damit die Chance, sein Versprechen bei Marian einzulösen.
»Haben wir uns also verstanden?«, fragte Paxton schließlich.
»Sie können sich auf mich verlassen«, erwiderte Cole und erhob sich von seinem Platz.
»Sehr schön.« Auch Paxton verließ seinen Sessel. »Wenn Sie dafür sorgen, dass die Züge der Midland Railway ausgebucht sind, haben Sie einen Wunsch bei mir frei. Eine Hand wäscht die andere.«
»Dazu besteht kein Anlass, Sir. Ich stehe ohnehin in Ihrer Schuld.« Cole deutete eine Verbeugung an. »Dann darf ich mich verabschieden?«
»Noch nicht ganz, Mr. Cole.« Paxton griff zu einer Zeitung auf dem Kamin. »Meine Frau und ich haben noch ein kleines privates Problem.«
Cole zuckte zusammen. »Bitte zählen Sie auf mich.«
»Das Problem betrifft Emily. Wenn Sie sich vielleicht kurz dieses Bild anschauen wollen?«
Cole nahm die Zeitung, die Paxton ihm reichte, eine schon ältere Ausgabe des
Northern Star.
Verwundert runzelte er die Stirn. Auf dem Titel war eine explodierte Lokomotive abgebildet sowie zwei Leichen, die bei dem Unglück ums Leben gekommen waren. Was hatte das mit Emily zu tun?
Paxton schien seinen Gedanken zu erraten. »Ich habe den Verdacht«, sagte er, »dass die Illustration womöglich von unserer Tochter stammt. Ich wäre Ihnen darum sehr dankbar, wenn Sie der Sache auf den Grund gehen würden. Aber bitte diskret, damit meine Frau nichts davon erfährt. Sie würde sich nur unnötige Sorgen machen.«
13
»Hoffentlich merken die nicht, dass ich schwanger bin. Dann schicken sie mich gleich wieder weg.«
»Hab keine Angst, man sieht doch noch gar nichts.«
»Wirklich nicht?«
»Wenn ich es dir versichere.«
Emily strich dem Mädchen über das Haar. Annie war noch jünger als sie, höchstens achtzehn Jahre, und doch musste sie bald schon für ein eigenes Kind sorgen. Sie hatten erst an diesem Morgen Bekanntschaft gemacht, aber in den zwei Stunden, in denen sie hier in der Schlange zusammen warteten, waren sie so vertraut miteinander geworden, als würden sie sich schon seit langem kennen, so dass Emily nichts Befremdliches mehr dabei fand, Annie mit dem Vornamen anzureden oder ihr über das Haar zu streichen.
In ihrer Reihe standen mindestens hundert Frauen, die alle dasselbe wollten wie sie: Arbeit. Victor hatte von einem Scheuermann, der mit ihm in den Hafenspeichern der Ostindien-Gesellschaft Kornsäcke schleppte, den Tipp bekommen, dass in der Bauwollspinnerei und Weberei Hopkins heute neue Arbeiterinnen eingestellt
Weitere Kostenlose Bücher