Die Rebellin
wie damals, vor über zehn Jahren, als er sie einmal nackt gesehen hatte. Es war in ihrem »Paradies« gewesen, im Park von Chatsworth, am Ufer des Teichs. Sie hatten zusammen gebadet, ihre Kleider waren nass, und damit ihre Eltern nichts merkten, hatten sie sich ausgezogen und die Kleider zum Trocknen in die Sonne gelegt. Zuerst hatten sie Rücken an Rücken gesessen, die Augen fest geschlossen, und einander versprochen, sie erst zu öffnen, wenn sie sich wieder angezogen hätten, doch nach ein paar Minuten hatten sie es nicht länger ausgehalten und sich umgedreht und einander angeschaut, und er hatte angefangen, sie zu berühren, und dann hatte auch sie ihn berührt, überall, sogar seinen
»Prinzen« …
»Bist du endlich wieder da?« Emily hob den Kopf und blinzelte ihn an. »Ich hatte schon Angst, der Flaschengeist …«
»Pssst«, machte er. »Schlaf einfach weiter.«
Er hob sie vom Stuhl und trug sie zum Bett. Im Halbschlaf schlang sie den Arm um seinen Hals und schmiegte sich an seine Brust. Als er ihre Haut auf seiner Haut spürte, wusste er, dass alles wieder gut war.
»Träum schon«, sagte er, nachdem er sie behutsam auf das Bett gelegt hatte, und bedeckte mit der Decke ihre Schulter. »Träum von Amerika.«
Doch Emily schüttelte auf ihrem Kissen den Kopf. »Wir können nicht nach Amerika fahren«, murmelte sie.
»Was sagst du da?«
»Nein«, wiederholte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Wir können nicht einfach verschwinden. Wir haben hier vorher noch etwas zu tun.«
19
»König Mob im Anmarsch!«
»Die Massen erobern den Kristallpalast!«
»Drohen jetzt Chaos und Aufruhr?«
An dem Morgen, als der Eintritt zur Weltausstellung erstmals auf einen Schilling gesenkt wurde, um jedem interessierten Bürger des Landes den Zugang zu ermöglichen, waren die Zeitungen voll von der erstaunlichen Neuerung, mit denen die Organisatoren laut Meinung der Presse allerdings riskierten, den Charakter der Veranstaltung von Grund auf zu verändern. Würden sich die Besitzer der teuren Saisonkarten nicht zwangsläufig zurückziehen, wenn Arbeiter und Handwerker wie Heuschrecken in den Kristallpalast einfielen, um sich über all die Wunderwerke und Schätze herzumachen, die dort eigentlich für ein ganz anderes Publikum ausgestellt waren? Die
Times
jedenfalls riet ihren Lesern, sich während der Schillingstage von dem Ort fern zu halten – nicht zuletzt im Hinblick auf die Gefahren, die ihnen dort drohten. Die Öffnung der Tore für jedermann war geradezu eine Einladung an alle Unruhestifter, im Tempel des Fortschritts ihr Unwesen zu treiben und das Fest des Friedens für ihre Zwecke zumissbrauchen. Es schien mehr als fragwürdig, ob die dreihundert Gardisten und Geheimpolizisten, die sich laut Auskunft der Regierung in der Ausstellung unter das Volk mischen würden, im Ernstfall ausreichten, um mögliche Störenfriede zu identifizieren und zu eliminieren, bevor sie ihre Absichten in die Tat umsetzen konnten.
»Bist du nervös?«, fragte Victor.
Emily schüttelte den Kopf.
»Lügnerin!«
Statt einer Antwort nahm sie seine Hand und versuchte zu lächeln. Seit über einer Stunde standen sie schon an, um zum Kristallpalast vorzudringen, zusammen mit Tausenden von anderen Menschen, die zum ersten Schillingstag in den Hyde Park geströmt waren und sich jetzt vor dem Hauptportal drängten. Bis zur Kensington Road stauten sich die Warteschlangen an den Kassen zurück. Nur vor dem Eingang in der Mitte des Gebäudes, wo ein einzelner Ordner einigen wenigen Besuchern Einlass gewährte, brauchte niemand zu warten.
»Für Saisonkarten-Besitzer«
, stand dort auf einem großen Transparent zu lesen.
»Die haben’s gut«, sagte ein rotgesichtiger Viehhändler aus Yorkshire, der vor Victor und Emily in der Reihe stand, und wischte sich mit einem karierten Tuch den Schweiß von der Stirn. »Ja, Geld müsste man haben.«
Obwohl Emily sich geschworen hatte, keinen Fuß in den Kristallpalast zu setzen, war es ihre Idee gewesen, die Ausstellung zu besuchen, und Victor und sie hatten sich die zwei Schilling Eintritt buchstäblich vom Mund abgespart. Der Streit mit ihm hatte ihr die Augen geöffnet. Sie durfte London nicht einfach verlassen. Vor ihrer Abreise nach Amerika musste sie noch eine Aufgabe erfüllen, ohne die sie sich nicht berechtigt fühlte, ihr neues Leben zu beginnen. Sie wusste selber nicht genau, was für eine Aufgabe das war, sie wusste nur, dass sie hier in diesem gläsernen Gebäude, das ihr Vater
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