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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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erbaut hatte, auf sie wartete, im Kristallpalast. Beim Anblick des Drehkreuzes, das sie gleichpassieren würde, wurde ihr ganz flau zumute, doch als sie spürte, wie Victor ihre Hand drückte, kehrte ihre Zuversicht zurück. Sobald sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, war sie frei. Victor hatte die Heuer bekommen, und sie hatten für dasselbe Dampfschiff, auf dem er als Heizer arbeiten würde, eine Passage vierter Klasse gebucht – zusammen mit dem Handgeld für die Heuer hatten ihre Ersparnisse sogar für eine eigene Kabine gereicht, trotz Krabben und Bordeaux.
    »Haben Sie so was Herrliches schon mal gesehen, Miss?« Ehrfürchtig wie in einer Kirche nahm der Viehhändler seinen Hut ab, als sie den Pavillon betraten. »Wenn ich das zu Hause erzähle, das glaubt mir kein Mensch!«
    Emily musste sich fast die Zunge abbeißen, um ihm nicht Recht zu geben. Egal, wie großartig und prächtig sie sich früher alles vorgestellt hatte, die Wirklichkeit, die sie nun erlebte, war noch viel großartiger und prächtiger! Eine gigantische Schatzkammer tat sich vor ihr auf, angefüllt mit allen Reichtümern der Erde, und ein babylonisches Stimmengewirr schlug ihr entgegen. Die Halle quoll über vor lauter sich drängenden Menschen, die gläsernen Wände drohten aus den Fugen zu platzen. Bereits zu dieser frühen Stunde füllten über hunderttausend Besucher das Gebäude, wie ein Schild am Eingang des Transepts verkündete. Scheinbar schwerelos wölbte sich die gläserne Kuppel über der wogenden Menschenmenge, wo zwischen schwarzen Zylindern und weißen Hauben überall rote Feze, gelbe Sombreros und grüne Turbane zu sehen waren – die ganze Welt schien an diesem Ort versammelt zu sein. Nur die Ulmen ließen die Zweige hängen, wahrscheinlich, weil ihnen der Nachttau fehlte.
    Plötzlich zuckte Emily zusammen. In der Mitte des Transepts, auf den Stufen des Brunnens, aus dessen gläsernen Schalen das Wasser sich in glitzernden Kaskaden ergoss, stand Henry Cole. Er wippte auf den Fußballen und gab auffallend unauffälligen Männern mit kleinen Gesten irgendwelche Anweisungen. Waren das Polizisten? Auf einmal glaubte Emily überall Spitzel zusehen: der Zigarrenverkäufer, der Zeitungsschreier, der Reiseleiter, der eine Schar Studenten anführte – jeden Mann in ihrer Nähe verdächtigte sie, voller Angst, dass er die Gedanken in ihrem Kopf las und sie verhaftete. Ohne sich von dem Viehhändler zu verabschieden, zog sie Victor weiter.
    »Was ist los? Hat dich jemand erkannt?«
    »Frag jetzt nicht! Komm!«
    Eilig stiegen sie die Treppe zur Galerie hinauf, die vom Transept in den Seitenflügel des Pavillons führte. Unter dem gläsernen Dach, auf das die Sommersonne herunterbrannte, herrschte eine so drückende Hitze wie in den Treibhäusern von Chatsworth. Wo immer ein Brunnen plätscherte, bildeten sich Menschentrauben, an den chinesischen und indischen Ständen nahmen Besucher die Fächer, die dort als Schmuck an den Stellwänden hingen, von den Haken, um sich Luft zuzufächeln, manche gossen sich aus mitgebrachten Flaschen Wasser über die Köpfe, und vor den gelb und weiß gestrichenen Kiosken von Mr. Schweppes bildeten sich fast so lange Schlangen wie draußen vor dem Eingang. Emily wünschte sich nichts sehnlicher als eine Erfrischung, ihr Mund war ganz ausgetrocknet, doch eine Limonade würde mehr Geld kosten, als Victor und sie an zwei Tagen für ihre Mahlzeiten ausgaben.
    »Hast du eine Idee?«, fragte er, als sie außer Sichtweite waren und Emily stehenblieb.
    »Nein«, sagte sie und schaute zurück in die Richtung des Brunnens. »Ich wollte, wir hätten einen Sack Blindschleichen dabei, den wir hier ausschütten könnten.«
    Wie ein Lindwurm wand sich der Strom der Besucher durch die Ausstellung. Emily hatte gehofft, hier einen Schlüssel zu finden, einen Hinweis, um irgendetwas zu tun gegen dieses verlogene Spektakel. Doch jetzt, als sie den Blick durch die brodelnde Halle schweifen ließ, schwand ihre Zuversicht dahin. Betrunken vor Begeisterung taumelten die Menschen durch das falsche Paradies, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, um welchenPreis es entstanden war, wie viele Opfer es kostete, wie viele Menschenleben, Tag für Tag. Mit einem Gefühl von Bitterkeit dachte Emily an Colonel Sibthorp. Nein, Gott hatte das Gebet des Tory-Abgeordneten nicht erhört. Eine Militärkapelle zog mit lautem Getöse zu Emilys Füßen vorbei, wie ein Meer teilte sich die Menge, um die Musiker passieren zu lassen. Hochrufe

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