Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
haben? Das Blut eines Mörders? Und es gibt keine Möglichkeit, dass es je aufhört. Es ist, als müsste man in einer Zwangsjacke leben, und man kommt nie wieder aus ihr raus. Ich wünschte«, fügte sie leise hinzu, »das alles hier flöge in die Luft, sein ganzer verfluchter Kristallpalast.«
    Victor erwiderte ihren Blick. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich glaube, du irrst dich«, sagte er. »Es gibt eine Möglichkeit, aus der Zwangsjacke rauszukommen.«
    »Welche?«
    Er wurde noch ernster. »Ob du seine Tochter bist, hängt nicht von ihm ab, Emily, sondern von dir. Von deiner Entscheidung.« Er nahm ihr Kinn und hob es zu sich empor. »Du musst dich nur entscheiden. Wer willst du sein? Seine Tochter oder …« – Er zögerte eine Sekunde, bevor er weitersprach – »… oder meine Frau?«
    Wie ein Stromstoß fuhr Emily die Frage in den Leib, und sie hatte nur den einen Wunsch, ihre Lippen auf seinen Mund zu pressen. Doch sie beherrschte sich – dieser Kuss war zu wertvoll, um ihn ihm hier zu geben, inmitten von all diesen Leuten, sie würde ihn aufbewahren, bis sie mit Victor allein war. Auchwenn es ihr schwer fiel, löste sie sich von seinem Blick und schaute wieder hinab in die Halle, wo der Webstuhl weiter seine stupide Arbeit verrichtete, als wolle er bis zum Jüngsten Tag nichts anderes tun, begleitet von den Erklärungen des Ingenieurs, der beim Sprechen ab und zu mit einem Lappen über die blitzenden Maschinenteile wischte, damit sich kein Körnchen Staub darauf festsetzen konnte.
    »Du hast mir keine Antwort gegeben, Emily.«
    Sie versuchte, sich auf die Worte des Ingenieurs zu konzentrieren. Doch es gelang ihr nicht. Sie hörte nur Victors Stimme, auch wenn er gar nicht mehr sprach, sah sein Gesicht, seine Augen, die Narbe auf seiner Stirn, obwohl sie weiter auf den Webstuhl starrte, spürte seine Nähe, seinen Atem, obwohl er sie gar nicht berührte.
    Sie hielt es nicht länger aus. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände, um ihn zu küssen.
    Im selben Moment ertönte ein Ausruf der Enttäuschung, aus Hunderten von Kehlen.
    »Ohhhhhhhhhhhhhhhh!«
    Der Webstuhl hatte die Arbeit eingestellt, der Antrieb war ausgefallen. Hektisch hob der Ingenieur sein Sprachrohr an den Mund und rief irgendwelche Erklärungen, doch die Arbeiter, die seinen Apparat eben noch bestaunt hatten, waren so enttäuscht wie Kinder, denen man ihr Spielzeug weggenommen hat. Vor ihnen stand nur noch eine dumme, billige Spieluhr, die den Geist aufgegeben hatte.
    Emily blickte Victor an. War das die Lösung? Eine Möglichkeit, das Riesenkarussell anzuhalten?
    Sie wollte den Gedanken gerade aussprechen, da erstarrte sie. Keine zwei Schritt von ihr entfernt kam Henry Cole eine Treppe hinauf, in Begleitung eines Gardisten.
    Mit seinen wachen, intelligenten Augen sah er ihr direkt ins Gesicht.

20
     
    Mit kreischenden Bremsen kam der Sonderzug aus Dover in London Bridge Station zum Stehen. Joseph Paxton war froh, dass die Fahrt ein Ende hatte. Nicht nur wegen der Aussicht, sich nach all den vielen Stunden, die er mit einem halben Dutzend rauchender und schwitzender Männer in dem engen Coupé eingepfercht war, die geschwollenen Beine vertreten zu können, sondern auch wegen einer Beschwerde, die ihn auf peinliche Weise an ein Malheur in seiner Jugend erinnerte. Seit der Abfahrt von Paris juckte es ihm zwischen den Beinen, ein Reiz, der sich während der Schiffspassage über den Kanal ins Unerträgliche gesteigert hatte, doch dem er in Gegenwart seiner Reisegenossen, allesamt ehrwürdige Lords und Bürgermeister, unmöglich hatte nachgeben dürfen. Die Austritte auf die Toilette hatten die Sache eher noch verschlimmert, statt Abhilfe zu schaffen.
    »Gelobt sei der allmächtige Gott«, seufzte Lord Granville, der Chef der Delegation. »Endlich wieder in der Zivilisation!«
    Auf dem Bahnsteig drängten sich Hunderte von Menschen zu ihrem Empfang, mit bunten Fähnchen und Willkommenstransparenten – sogar eine Blechkapelle begann zu spielen, als Paxton den Zug verließ. Trotz des Gewühls brauchte er keine Minute, um seine Frau zu entdecken. Sarah trug einen so ausladenden Hut, dass man bequem die Place de la Concorde damit hätte bedecken können. Mit einem Brief in der Hand lief sie winkend auf ihn zu.
    »Gute Nachricht aus Manchester! Emily hat wieder geschrieben. Sie schimpft fürchterlich über Rebeccas Kekse, die sie zum Frühstück essen muss.«
    Paxton fiel ein Stein vom Herzen. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich wegen

Weitere Kostenlose Bücher