Die Rebellin
gerade eine Brigg aus dem Wald von Schiffsmasten, um die Flut zum Auslaufen zu nutzen. Stundenlang war er nach dem Streit mit Emily durch die Straßen geirrt, bis er schließlich hier gelandet war. Als er sie verließ, hatte er gehofft, dass sie etwas sagen würde, um ihn zurückzuhalten, doch sie hatte ihn einfach gehen lassen, ohne ein einziges Wort.
Krabben und Weißwein! Victor wusste nicht, worüber er wütender war: über Emilys Leichtsinn oder über seinen eigenen Jähzorn. Vielleicht hatte sie ihn jetzt schon verlassen, vielleicht war sie schon wieder zurück bei ihren Eltern, lag schluchzend im Arm ihres Vaters oder nahm ein Bad, um sich von dem Schmutz zu reinigen, mit dem sie durch ihn in Berührung gekommen war.
Victor warf einen Kieselstein hinab in den Abgrund, und während er auf das schäumende Wasser blickte, spürte er, wie die Wut in ihm hochkochte. War es ein Wunder, dass er die Beherrschung verloren hatte? Wie ein Idiot hatte er sich beherrscht, Nacht für Nacht, während er schlaflos auf dem Boden seiner Kammer gelegen und auf jedes Geräusch gelauscht hatte, das Emily machte. Warum hatte er sie nicht einfach genommen, so wie er jedes andere Mädchen genommen hätte? Seine Mutter hatte ihn gewarnt: »Die Paxtons sind alle faule Äpfel …« Sollte sie Recht behalten? Es gab kaum noch einen Grund, daran zu zweifeln. Immer, wenn er sich mit Emily eingelassen hatte, hatte sie ihm Unglück gebracht, war es ihm anschließend schlechter gegangen als vorher. Sie würde es nie schaffen, auf den Luxus und Reichtum zu verzichten, in dem sie aufgewachsen war – sie passte so wenig zu ihm wie ihre Krabben und ihr französischer Weißwein in seine armselige Kammer. Wenn sie morgensaufstand und sich waschen wollte, musste sie Wasser im Hof pumpen, und der Abort war eine ekelhaft stinkende Latrine im Treppenhaus, die fast immer besetzt war, weil ein Dutzend Mieter sie sich teilte. Victor empfand die Scham darüber so stark, dass er immer wütender wurde. Warum fuhr er nicht einfach allein nach Amerika? Um Emily zu vergessen, beschloss er, Fanny aufzusuchen. Sie würde ihn mit Freuden empfangen.
Er wollte sich gerade abwenden, da sah er auf dem Fluss ein Boot, das unter dem Bogen der Brücke hervorschoss. Im Schein der Bootslaterne hockten ein Mann und eine Frau, die aneinander gelehnt die Ruderpinne bedienten. Schneller als ein Pfeil raste das Boot geradewegs in den wütenden Rachen eines Strudels. Eine Welle brach über dem winzigen Bug, und Victor hatte keinen Zweifel, dass es jeden Moment vollschlagen und in dem sprühenden Wirbel untergehen musste, mitsamt den beiden Menschen. Doch wie eine Feder schnellte es über den Hexenkessel hinweg, und schon im nächsten Augenblick war es außer Gefahr.
Plötzlich hatte Victor nur noch den Wunsch, Emily wiederzusehen. War er wahnsinnig gewesen, einfach abzuhauen, ohne um sie zu kämpfen? Wegen ein paar Krabben und einer Flasche Wein?
Im Laufschritt verließ er die Brücke, und keine halbe Stunde später war er in der Catfish Row.
Doch als er seine Kammer betrat, war das Bett unberührt.
»Emily …«
Er hörte ein leises Rascheln und blickte zur anderen Seite. Da entdeckte er sie. Sie war am Tisch eingeschlafen, mit einer Decke um den Schultern. Victor musste schlucken – offenbar hatte sie die ganze Zeit auf ihn gewartet. Leise, um sie nicht aufzuwecken, trat er zu ihr. Ihr Kopf war auf die Tischplatte gesunken, vor ihr standen noch die Reste ihres Abendmahls. Sie sah so wunderschön aus im Mondlicht, mit ihrer feinen Nase und der reinen, weißen Haut, wie eine der kostbaren Porzellanpuppen, die»Hemley’s« in der Regent Street verkaufte, und die winzig kleinen Sommersprossen bildeten die verwirrendsten Muster auf dem hellen Untergrund, als hätte ein Künstler sie mit feinem Pinsel darauf aufgetragen. Jedes Mal, wenn sie ausatmete, zitterte eine Locke, die ihr in die Stirn gefallen war, und ab und zu ging ein Zucken durch ihr Gesicht. Vielleicht, weil die Locke sie kitzelte, vielleicht auch, weil sie gerade träumte …
»Gott sei Dank«, flüsterte er.
Wieder bewegte sie sich im Schlaf, und die Decke rutschte von ihrer Schulter, sodass nur noch ihr Hemd ihre Blöße vor seinen Blicken verhüllte. Deutlich zeichneten sich die Umrisse ihrer Brüste unter dem dünnen Baumwollstoff ab.
Victor spürte, wie das Blut in seinen Adern pulsierte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und für einen Augenblick sah sie aus, als würde sie ihm zuzwinkern. So
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