Die Rebellin
ertönten, Frauen klatschten in die Hände, und Männer warfen ihre Hüte in die Luft. Emily wurde fast schwindlig. Noch nie war sie sich so klein und erbärmlich vorgekommen. Was sollten Victor und sie hier ausrichten, inmitten dieses gigantischen Taumels, der jeden mit sich fortzureißen schien? Eher würde ein Kind mit bloßen Händen ein Jahrmarktskarussell aufhalten, als dass sie dieses Räderwerk zum Stillstand brachten.
»Erinnerst du dich noch, wie wir uns zum ersten Mal auf der Baustelle trafen?«, fragte Emily. »Hättest du damals deinen Plan nur ausgeführt. Ein paar Wochen Streik hätten genügt, um das Ganze zu verhindern.«
Sie glaubte in der Ferne zu erkennen, wie Cole den Brunnen verließ, und zog Victor weiter. Im Westflügel, wo die Maschinen ausgestellt waren, schien das Gedränge nicht ganz so dicht wie im Transept zu sein, und der Lärm der Militärkapelle war kaum noch zu hören. Am Stand der Firma »Hilroy & Sons« umringte eine Reisegesellschaft von Arbeitern einen Webstuhl, der an die fünfzig Fuß breit war und wie von einer unsichtbaren Hand gesteuert sein Werk verrichtete. Während die bunt gewirkte Stoffbahn Stück für Stück von der Walze zu Boden sank, lauschten die Männer mit offenen Mündern den Ausführungen eines Ingenieurs, der im weißen Kittel neben dem leise klappernden Apparat stand und mit Hilfe eines Sprachrohrs das Wunder erklärte: eine Dampfmaschine, verborgen unter dem Boden der Halle, erzeugte die für den Antrieb nötige Energie, während Lochkarten das Einbringen eines mehrfarbigen Einschlags durch verschiedene Schützen steuerten. Warum, dachte Emily, sprach der Mann nur von den mechanischen und physikalischen Prinzipien,auf denen die Technik beruhte, warum nicht auch von dem Elend und der Not, die der Webstuhl in den Fabriken verursachte, von dem ermüdenden Stumpfsinn, in den die Arbeiterinnen beim Stieren auf die sich ewig drehenden Spindeln fielen, von ihrer Angst, ihre Stellung zu verlieren, weil immer weniger Arbeitskräfte nötig waren, um immer mehr Maschinen gleichzeitig zu beaufsichtigen, von den Streitereien in den Familien, die aus diesem Gemisch von Stumpfsinn und Angst wie eine Explosion hervorbrechen konnten, wenn die Frauen abends erschöpft nach Hause zu ihren Männern kamen, die einen genauso quälend langen Arbeitstag hinter sich hatten wie sie? Am liebsten hätte sie ein Bild davon gemalt, um ihren Abscheu auszudrücken, doch nachdem Mr. Harper ihre Adresse verraten hatte, fertigte sie keine Illustrationen mehr für den
Northern Star
an, obwohl der Redakteur sie in mehreren Briefen darum gebeten hatte.
Victor blieb stehen und schaute Emily an. »Du weißt, warum ich es nicht getan habe. Du hast mir gesagt, im Kristallpalast würde etwas entstehen wie unser ›Paradies‹ in Chatsworth.«
»Ja, auf unserer Ballonfahrt«, nickte sie. »Aber damals hatte ich ja keine Ahnung. Damals glaubte ich ja noch an die Lügen, die mein Vater erzählte. Aber jetzt weiß ich es besser – wissen
wir
es besser, Victor, besser als alle anderen Menschen hier.«
»Was wissen wir besser?«
»Die Wahrheit«, sagte sie so laut, dass ein paar Leute sich umdrehten. »Alle Wunderwerke, die hier ausgestellt werden, dienen in Wirklichkeit nur dazu, die Kuchenesser noch reicher und die Steckrübenesser noch ärmer zu machen. Und die Kuchenesser sorgen mit allen Mitteln dafür, dass sich daran nichts ändert und alles für immer so bleibt. Oder hast du vergessen, warum Toby sterben musste?«
Sie sah in Victors Gesicht, hoffte auf ein Wort oder Zeichen, das sie bestätigte. Doch sein Gesicht verriet keine Regung. Hatte er schon aufgegeben? Hatte der abscheuliche Jahrmarkt, der hier veranstaltet wurde, ihn so beeindruckt, dass er die Wahrheitnicht mehr sah? Die Wut, die sonst so oft aus seinen Augen sprühte, schien wie ausgelöscht.
Plötzlich kam ihr ein Verdacht, böse und gemein wie ein Angriff aus dem Hinterhalt. Lag es vielleicht gar nicht an dem Pomp und Getöse, an den Zurschaustellungen der Größe und Stärke, mit denen die Kuchenesser hier ihre Macht demonstrierten, dass Victor so reagierte? Lag es vielleicht an ihr selber? Weil sie Miss Emily Paxton war, die Tochter von Joseph Paxton?
»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich ihn hasse«, flüsterte sie.
»Wen?«, fragte Victor.
»Meinen Vater. Er hat Toby auf dem Gewissen. Und ich bin seine Tochter! Kannst du dir vorstellen, was das heißt? Was für ein Gefühl das ist, sein Blut in den Adern zu
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