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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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lächelte sie zärtlich an. »Bestimmt nicht, ich weiß es genau.«
    Emily schlang die Arme um seinen Hals – da ertönte plötzlich ein Läuten und Klingeln, ein Bimmeln und Schellen, als würden tausend Glocken und Glöckchen auf einmal ertönen.
    Erschrocken blickten die beiden sich an.
    »Schnell weg!«
    Wo konnten sie sich verstecken? Sie liefen zum Gemach des Maharadschas und schlüpften durch den Vorhang, wo sie in einem Berg aus Kissen und Decken versanken. Sie hielten den Atem an, bis das Schellengeläut verstummte. Ein letztes, leises Glöckchen in der Ferne:
pling
… Dann war es wieder so still wie in einer Kirche.
    »Hast du eine Ahnung, was das war?«, flüsterte Victor.
    »Vielleicht die Uhrenabteilung?«
    »Dann wissen wir jetzt ja, wie spät es ist.«
    Sie prusteten los vor Lachen, und Victors dunkle Augen blitzten wie früher in Chatsworth, wenn ihnen zusammen ein Streich gelungen war.
    Doch plötzlich wurde sein Gesicht ganz ernst, und Emily musste schlucken. Erst jetzt merkte sie, dass sie einander umschlungenhielten. Ihre Gesichter waren so nahe, dass sie sich fast berührten.
    »Ich liebe dich«, flüsterte sie.
    »Ich liebe dich«, flüsterte er, im selben Augenblick.
    Auf einmal war Emily alles zu eng, und sie hatte nur noch das Bedürfnis, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Sie richtete sich vor ihm auf, und mit zitternden Händen öffnete sie die Knöpfe ihrer Bluse, um sich zu entblößen, vor Victors Augen, vor seinen schwarzen, aufmerksamen Blicken, mit denen er jede ihrer Bewegungen beobachtete, registrierte, in sich aufsog, während er selber anfing, sich gleichfalls vor ihr auszuziehen, die Jacke, das Hemd, die Hose, wortlos, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde von ihr zu lassen, ein stummes, bebendes Verlangen, das ganz und gar auf sie gerichtet war, nur sie allein wollte, nur sie allein begehrte.
    Dann waren sie beide nackt und bloß, wie die ersten Menschen im Paradies.
    »Willst du meine Frau sein?«
    Emily wusste nicht, ob er die Worte wirklich ausgesprochen oder ob sie die Frage nur in seinen Augen gelesen hatte. Aber sie wusste, welche Antwort die richtige war.
    »Ja, Victor, ja …«
    Er fasste sie bei den Schultern, und während sie auf den Rücken sank und ihr Blick sich in der Unendlichkeit der Sternennacht jenseits der gläsernen Kuppel verlor, spürte sie ihn, wie er sie berührte, wie noch kein Mensch sie je berührt hatte, sie zärtlich ertastete und gleichzeitig fordernd erkundete.
    Dann ein Schmerz, so scharf, als würde er sie zerreißen, und gleichzeitig eine Lust, als würde sie gen Himmel fahren.
    Emily schloss die Augen. Und während Victor in sie drang, mit einem Schrei, der sich aus Urzeiten in seiner Brust zu lösen schien, zerbarst der gläserne Palast in ihrem Kopf, in Millionen und Abermillionen Scherben.

FÜNFTES BUCH
Der Kristallpalast: Die ganze Welt an einem Ort Herbst 1851

1
     
    Eine Spekulation an der Börse ist stets eine Wette mit dem Schicksal: Ihr Sinn besteht darin, mittels einer Wahrscheinlichkeitseinschätzung künftiger Marktverhältnisse vorteilhafte Geschäfte für spätere Termine zu ermöglichen, damit das eingesetzte Geld in möglichst kurzer Zeit eine möglichst hohe Rendite abwirft. Am Ende einer solchen Operation steht manchmal unermesslicher Reichtum, nicht selten aber persönlicher Ruin, der ganze Familien mit sich in den Untergang reißt.
    Die Spekulanten, die darauf gesetzt hatten, dass die erste Weltausstellung der Geschichte eine Revolution des Reiseverkehrs herbeiführen und der Eisenbahn zum endgültigen Durchbruch verhelfen würde, hatten darum Monate zwischen Hoffen und Bangen verbracht. Doch jetzt, nach Einführung der Schillingstage, wurden ihre Gebete erhört und die Zeit der Ernte brach an. Dank der unermüdlichen Anstrengungen von Mr. Thomas Cook reisten Tausende und Abertausende von Besuchern zu dem Ereignis nach London. Die Bahnhöfe des Landes wurden der anstürmenden Massen kaum noch Herr, die Züge quollen über von zahlenden Passagieren, und im September kletterte die Nachfrage in solche Höhen, dass die Einkünfte der Eisenbahngesellschaften sich auf über fünfmal hunderttausend Pfund beliefen und Unfälle auf den überlasteten Strecken hin und wieder unvermeidlich wurden.
    Auch die Londoner Beförderungsunternehmen profitierten von dieser Völkerwanderung. An den Haltestellen der Omnibusse bildeten sich Warteschlangen, so weit das Auge reichte, die Pferde waren kaum imstande, die übervollen Wagen vom

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