Die Rebellin
Ingenieursleistung der Natur. Mein Gott, was hatte Emily gehofft und gebangt, dass es zur Anwendung gelangte, dass der Pavillon gebaut, die Weltausstellung Wirklichkeit wurde. Und jetzt, da ihre sehnlichsten Wünsche sich erfüllt hatten, war ihr das alles so verhasst und zuwider, dass sie es nicht in Worte fassen konnte.
»Was ist?«, fragte Victor. »Worauf wartest du?«
Emily hörte ihn kaum. Plötzlich hatte sie einen Wunsch. Er warvollkommen verrückt, doch so stark, dass sie ihn nicht unterdrücken konnte.
»Hast du eine Ahnung, wie viele Wachtposten jetzt noch da sind?«, fragte sie.
»Soweit ich weiß, gar keine. Der letzte Kontrollgang war um elf. Danach machen sie Feierabend.«
»Das heißt, wir sind die einzigen Menschen in dem ganzen Gebäude?«
»Ja, bis auf die Heizer. Warum?«
»Das ist ja wunderbar«, sagte Emily.
Sie machte kehrt und lief in die entgegengesetzte Richtung, auf eine breite Flügeltür zu, die die ganze Stirnseite des Ganges einnahm.
»Wohin willst du? Da geht es in die Ausstellung!«
»Ich will wissen, wie es
wirklich
aussieht. Ohne den ganzen ekelhaften Pomp.«
Bevor Victor etwas erwidern konnte, stieß sie die Tür auf.
Es war die Tür zu einer anderen Welt.
Eine Traumlandschaft lag vor ihnen, wie gebannt im Zauber der Nacht. Silbernes Mondlicht schien durch die gläserne Kuppel, in dem die Kronen der Ulmen riesige Schatten warfen. Jedes Geräusch war verstummt, der Lärm der Maschinen, das Geschrei der Menschen. Nur dunkles Schweigen erfüllte das gewaltige Rund.
»Mein Gott, wie ist das schön …«
Zusammen betraten sie das Transept. In den stehenden Wassern des Kristallbrunnens spiegelte sich das Mondlicht, dahinter erhob sich in wortloser Majestät der Thron aus den Schatten, ein dunkles Gebirge aus Stufen und Vorhängen.
»Komm!«
Sie nahm seine Hand und führte ihn vorbei an dem Throngebirge, vorbei an dem gläsernen, schlafenden Brunnen.
»Wohin gehen wir?«, fragte Victor.
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Sollte ich?« Victor schaute sie verwundert an. Dann lächelte er.
»Doch«, sagte er, »ich glaube, ich weiß es.«
Es war, als liefen sie durch ihren eigenen Traum. Alle Wunder dieser Erde – in dieser Nacht gehörten sie nur ihnen, ganz allein. Betäubende Düfte schwebten in der Luft, als sie die indische Abteilung durchquerten, von Zimt und Muskat, von Ingwer und Betel, von Sandelholz und Patschuli, während links und rechts kostbare Stoffe in der Dunkelheit schimmerten, Geschmeide und Königsmäntel, Perlenketten und Kronen, Tempeldrachen und Götterstatuen. Ein für immer erstarrter Elefant, ein ausgestopftes Exemplar von ungeheurer Größe, dessen Haupt mit silbernen Schnüren geschmückt war, reckte seinen Rüssel in die Höhe, als wolle er Blätter vom Laub der Ulmen pflücken oder ein stummes Signal in die nächtliche Welt hinausposaunen.
In der Ferne glänzte ein Schild im Mondschein, wie eine Landmarke, die plötzlich aus dem unendlichen Meer der hier versammelten Wunder auftauchte. Es bestand nur aus einem einzigen Wort, das in übergroßen Buchstaben auf einer Tafel geschrieben war: AMERIKA.
Emily ging direkt darauf zu. Doch Victor hielt sie am Arm zurück.
»Schau mal, dort!«
Nur wenige Schritte von ihnen entfernt, glänzte auf einem Podest ein kleiner goldener Tempel – die Aufbewahrungsstätte des Kohinoor, des größten Diamanten der Welt. Das Gittertürchen des Schreins stand offen, das Innere war leer.
»Wie ein Vogelbauer, aus dem der Vogel ausgeflogen ist«, sagte Victor.
»Oder wie ein leerer Tabernakel nach der Messe.«
»Weißt du, wo sie den Stein über Nacht hinbringen?«
»Ich glaube, in den Safe der Baring Bank. Er soll zwei Millionen Pfund wert sein.«
»Zwei Millionen? Für ein Stück Kohle?«
Der Anblick des leeren Schreins erzeugte in Emily ein beklemmendesGefühl. Wie viele Menschen hatten für diesen Götzen wohl ihr Leben gelassen?
»Ich … ich würde gern etwas anderes hineintun«, sagte sie.
»Anstelle des Diamanten?«
»Ja, etwas Besseres. Etwas wirklich Wertvolles. Hast du eine Idee?«
Victor blickte sich um. Hinter ihnen, zwischen zwei gedrechselten Säulen, befand sich das Schlafgemach eines Maharadschas. Am Fußende des verschleierten Betts stand auf einem Tisch ein Korb mit bemalten, künstlichen Früchten. Victor nahm einen goldenen Apfel und legte ihn in den Schrein.
»Einen Apfel?«, fragte Emily. »Hast du keine Angst, dass er faul sein könnte?«
»Dieser nicht.« Victor
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