Die Rebellin
von links statt von rechts zu servieren, die der Butler trotz der Rügen ihrer Mutter mit der Beharrlichkeit eines walisischen Maulesels beibehielt –, das alles war ihr so vertraut wie der Geruch ihrer eigenen Haut. Und doch war alles vollkommen anders und fremd. Weil sie selber nicht mehr dieselbe war, die früher hier gesessen hatte: Damals war sie ein Mädchen gewesen, jetzt war sie eine Frau.
Mein Gott, waren ihre Eltern wirklich so blind, wie sie taten? Merkten sie denn nicht, dass sie aus einer anderen Welt zu ihnen zurückgekehrt war? Wenn sie nur einen Funken Feingefühl besäßen, müssten sie doch sehen, was mit ihrer Tochter in der Zwischenzeit geschehen war. Sie hatte mit einem Mann geschlafen, sich ihm täglich hingegeben, es gab keine Stelle an ihrem Körper, den er nicht besessen hatte, so wenig wie es an seinem Körper eine Stelle gab, die sie nicht erkundet hätte! Doch ihre Eltern redeten und redeten, als ob sie immer noch dasselbe unschuldige Mädchen wäre, das vor einigen Wochen ihr Haus verlassen hatte. Wollten sie die Wahrheit vielleicht gar nicht wissen? Weil sie ein schlechtes Gewissen hatten? Emily hatte fast den Eindruck. In einer Welt der Lügen wurde die Lüge offenbar zur einzigen Wahrheit.
»Emily, wo bist du? Hörst du uns überhaupt zu?«
»Das ist doch kein Wunder, Sarah. Das Kind ist noch müde von der Reise.«
»Hörst du?«, rief Georgey triumphierend. »Du bist auch noch ein Kind!«
»Entschuldigt bitte. Was habt ihr gesagt?«
Angewidert von der Arglosigkeit ihrer Eltern, versuchte Emily sich auf das Gespräch zu konzentrieren. Ihre Mutter bedauerte immer noch ihre Dickköpfigkeit, mit der sie der Eröffnungsfeier fern geblieben war, und ihr Vater erzählte von der wunderbaren Entwicklung, die die Weltausstellung genommen hatte, vor allem von der wunderbaren Entwicklung der Geschäfte: Schon jetzt zeichne sich ein so großer Gewinn ab, dass die Verwendung des Überschusses ein ernsthaftes Problem zu werden drohe. Nur den Namen ihres Komplizen Henry Cole erwähnten beide kein einziges Mal.
»Und wem habe ich das alles zu verdanken?«, fragte ihr Vater und prostete ihr zu. »Wenn du mir damals nicht geraten hättest, mein ganzes Geld zu investieren – ich weiß nicht, ob ich den Mut ohne dein Zureden aufgebracht hätte.«
Emily wurde fast übel. Hatte ihr Vater überhaupt noch eine Ahnung, wie schwer es war, mit richtiger, ehrlicher Arbeit auch nur einen Schilling am Tag zu verdienen? Um seinen Blick nicht erwidern zu müssen, drückte sie ihre Zigarette aus. Sie konnte es kaum mehr erwarten, einen Kontinent zwischen sich und diese Menschen zu bringen, die von sich behaupteten, ihre Eltern zu sein. Es gab nur einen Grund, weshalb sie überhaupt noch einmal hierher zurückgekehrt war: Zur Ausführung ihres Plans brauchten Victor und sie eine Information, die sie nirgendwo sonst bekommen konnten. Nur ihr Vater und ein paar wenige Eingeweihte wussten darüber Bescheid.
»Wann wird die Königin das nächste Mal die Ausstellung besuchen?«, fragte sie.
»Weshalb willst du das denn wissen?«, fragte ihre Mutter zurück.
»Kannst du dir das nicht denken?« Paxton schüttelte den Kopf.
»Weil sie diesmal mit dabei sein will!« Er blinzelte Emily verschwörerisch zu. »Die Queen kommt nur noch einmal in den Kristallpalast, am letzten offiziellen Besuchstag. Aber psssst –das darfst du keinem verraten! Die Sache ist streng geheim. Sicherheitsvorschriften!«
Emily schloss kurz die Augen, sie hätte nicht gedacht, dass es so leicht sein würde. Während sie ausrechnete, wie viele Tage Victor und ihr noch blieben, um ihren Plan auszuführen, schlug die Standuhr an, und die beiden Nymphen drehten sich im Kreis.
»Schon so spät?« Mit einem Seufzer erhob Paxton sich vom Tisch. »Höchste Zeit für mich.«
»Wie?«, fragte Emily. »Du musst fort?«
»Ja, nach Derby, zur Direktionssitzung. Aber mach dir keine Sorge«, fügte er hinzu, als er ihr irritiertes Gesicht sah, »auf der Tagesordnung stehen nur erfreuliche Dinge. Zum Beispiel die erste Zwischenbilanz.«
Er trat auf sie zu und nahm ihre Hände. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie schön es ist, dich wieder hier zu haben. Ich habe dich so sehr vermisst. Komm, gib mir einen Kuss.«
Emily stand auf, um sich von ihm zu verabschieden. Doch als sie in sein Gesicht sah, in dieses alte, seit Urzeiten vertraute Gesicht, geschah etwa mit ihr, was sie selbst nicht begriff. Tränen schossen ihr in die Augen, sie fiel ihrem Vater
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