Die Rebellin
geschenkt hatte.
Sie nahm ihr Tagebuch vom Nachttisch, warf es in ihre Tasche und wollte gerade das Zimmer verlassen, da fiel ihr Blick auf das Terrarium: Pythia! Wie war es nur möglich, dass sie ihre Schildkröte vergessen hatte? Sie holte einen Schuhkarton aus dem Schrank und stieß mit einem Brieföffner ein paar Luftlöcher hinein. Dann beugte sie sich über das Terrarium und hob die Schildkröte daraus empor.
»Komm, Pythia, du hast jetzt genug geschlafen«, flüsterte sie.
»Oder willst du etwa, dass ich ohne dich nach Amerika fahre?« Ein Geräusch, als hätte jemand Steinchen ans Fenster geworfen, ließ sie so heftig zusammenfahren, dass ihr Pythia aus der Hand fiel. Um Gottes willen, war das Victor? Ohne sich um Pythia zu kümmern, die auf ihrem gepanzerten Rücken in dem Terrarium lag, löschte sie das Licht und lief zum Fenster.
Doch draußen war alles still. Victor stand unter der Straßenlaterne und redete mit einem Konstabler, der ans Ende der Straße zeigte, als würde er ihm den Weg erklären. Jetzt lachten die zwei sogar miteinander, und der Konstabler klopfte Victor auf die Schulter.
Erleichtert zog Emily den Vorhang wieder zu. Wahrscheinlich hatte sie nur einen Vogel gehört, der mit dem Schnabel gegen die Scheibe gepickt hatte. Im Winter legte sie auf dem Fensterbrett immer Futter aus, und manche Vögel besuchten sie darum das ganze Jahr.
»Wer ist der Mann, der dich von der Fabrik abgeholt hat?«
Entsetzt fuhr Emily herum. In der Tür stand ein Schatten, auf dem Kopf trug er einen großen Hut.
»Du, Mama? Was – was machst du hier? Ich dachte, du bist auf dem Empfang … bei Premierminister Russell?«
Das Licht ging an. In dem engen Kleid sah ihre Mutter aus wie eine Statue, doch war sie so erregt, dass ihre sonst so ruhigen und ebenmäßigen Gesichtszüge zitterten.
»Ich war in der Fabrik«, sagte sie. »Deine Freundin Annie hat den Mann beschrieben. Lügen ist zwecklos.«
Emily spürte, wie sie blass wurde, aber sie brachte kein Wort über die Lippen. Ihre Mutter machte einen Schritt auf sie zu, die Augen fest auf sie gerichtet. Mit leiser, bebender Stimme sagte sie: »Es ist Victor, nicht wahr?«
Die Frage berührte Emily wie ein eisiger Hauch. Sie wollte protestieren, die Wahrheit leugnen, doch sie konnte es nicht. »Ja«, sagte sie nur, »es ist Victor.«
»Bist du wahnsinnig?«, schrie ihre Mutter auf.
Es war, als würde der Schrei in Emily einen Knoten zum Platzen bringen. All die Gefühle, die sich in Wochen und Monaten in ihr aufgestaut hatten, brachen mit einem Mal hervor.
»Ja, es ist Victor!«, rief sie. »Wer denn sonst?«
»Du wirst ihn nie wiedersehen!« Ihre Mutter schloss die Tür und packte ihren Arm. »Hörst du? Niemals!«
»Das kannst du mir nicht verbieten! Dafür gibt es keinen Grund!«
»Und ob es den gibt!«
Ihre Mutter schnappte nach Luft, doch brachte sie keinen Ton hervor.
»Siehst du?«, sagte Emily. »Da musst du schweigen. Weil es nichts gibt, was du gegen Victor vorbringen kannst.«
»Mehr als dir lieb sein kann!« Sarah Paxton hatte sich wieder unter Kontrolle. »Du hast ja keine Ahnung, du dummes, eingebildetes Kind!«
»Wenn ich keine Ahnung habe, kannst du mich ja aufklären.«
»Das kann ich nicht. Es … es gibt Dinge, über die spricht man einfach nicht.«
»Was für eine Antwort! Damit kann man alles rechtfertigen! Sogar die Verbrechen, die ihr Victor angetan habt!«
»Ich habe dir doch gesagt, ich kann dir die Gründe nicht nennen. Das musst du mir einfach glauben. Ich bin deine Mutter, ich will nur dein Bestes!«
»Du – meine Mutter?« Emily konnte gar nicht soviel Verachtung in ihre Worte legen, wie sie verspürte. »Du wolltest mich mit Männern verkuppeln, die ich gehasst habe, mit widerlichen Karrieristen, die nichts anderes im Kopf haben als ihren Aufstieg und ihren Erfolg und ihren Gewinn, mit Lügnern und Verbrechern wie Henry Cole.«
»Henry Cole war vielleicht ein Fehler – ja, ich gebe es zu! Aber das erlaubt dir noch lange nicht, dass du und Victor …«
»Was weißt
du
schon von Victor? Victor ist tausendmal besser als all die Lackaffen, die du seit Jahren auf mich hetzt. Er ist der einzige Mensch, den ich wirklich achten kann. Weil er Ideale hat, weil er an das glaubt, was er sagt, und bereit ist, sein Leben dafür einzusetzen. Er hat mir Dinge gezeigt, von denen du keine Ahnung hast. Er hat mir mehr gegeben, als alle anderen Menschen sonst – mehr auf jeden Fall als Papa und du.«
»Du bist ja von
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