Die Rebellin
Sinnen!« Ihre Mutter hielt sie so fest am Arm, dass es ihr wehtat. »Ich wiederhole jetzt zum letzten Mal: Duwirst Victor nie wieder sehen! Entweder du nimmst Vernunft an und gehorchst, oder dein Vater und ich werden dafür sorgen. Und wenn wir dich einschließen müssen.«
»Macht, was ihr wollt«, sagte Emily. »Aber es gibt nichts, was Victor und mich noch trennen kann.«
»Was in Gottes Namen willst du damit sagen?« Ihre Mutter schaute sie voller Entsetzen an. Dann holte sie Luft, und mit beherrschter, fast flehender Stimme sagte sie: »Bitte, Emily, ich beschwöre dich – schlag dir Victor aus dem Kopf. Jede junge Frau in deinem Alter macht solche Phasen durch, aber man kann sie besiegen. Das sind doch nur Sentimentalitäten!«
»Was sagst du da, Mama? Sentimentalitäten?«
»Bitte, Emily, du musst Abstand gewinnen. Mach eine Reise, fahr nach Frankreich, nach Italien, wohin du willst, von mir aus nach Indien, ich komme mit und begleite dich. Papa und ich, wir erfüllen dir jeden Wunsch, wenn du uns nur versprichst, dass du Victor nicht wieder siehst, wenn du nur …«
Sie verstummte, als hätte sie das Vertrauen in ihre eigenen Worte verloren. Aus ihren Augen sprach Angst, blanke, verzweifelte Angst.
Emily schüttelte den Kopf. »Was Victor und mich verbindet, Mama, das sind keine Sentimentalitäten.«
»Natürlich sind sie das«, erwiderte Sarah, doch so leise, dass sie kaum noch zu verstehen war. »Was denn sonst?«
Plötzlich war Emily ganz ruhig, und ihre Mutter tat ihr fast Leid, als sie ihr die Antwort gab.
»Wenn du wirklich wissen willst, warum Victor und mich nichts mehr trennen kann – das kann ich dir sagen. Ganz einfach: weil ich seine Frau bin.«
Sie spürte, wie die Kraft aus der Hand ihrer Mutter wich, der Griff um ihren Arm sich löste. Ohnmächtig sank Sarah Paxton auf einen Stuhl.
»Herr, vergib ihnen«, flüsterte sie, »denn sie wissen nicht, was sie tun …«
8
In dem kleinen, weiß gestrichenen Kabinett roch es nach Karbol und Jodtinktur.
»Wenn Sie sich bitte freimachen würden«, sagte Dr. Livingstone. Die Aufforderung war Joseph Paxton mehr als unangenehm, doch nachdem er sich nun einmal entschlossen hatte, den Aufenthalt in Derby für die Konsultation eines einschlägig erfahrenen Spezialisten zu nutzen, um sich einen Besuch bei seinem Londoner Hausarzt zu ersparen, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Hose aufzuknöpfen und seinen Unterleib zu entblößen.
»Bitte vollständig, Sir.«
Widerwillig ließ er die Unterhose zu Boden sinken. Der Arzt kniete vor ihm nieder, und während Paxton den Blick hob und durch das Fenster in den grauen Regenhimmel schaute, wo ein Schwarm Schwalben über dem Dach einer Fabrik gerade zum Tiefflug ansetzte, spürte er, wie Dr. Livingstone sich mit routinierten Griffen an ihm zu schaffen machte. Noch nie hatte ihn an dieser Stelle seines Körpers jemand so schamlos berührt. Außer Mimi, das verfluchte französische Luder, dem er diese Prozedur zu verdanken hatte.
»Sie brauchen sich nicht zu genieren, Mr. Paxton. Ich sag immer: Mit Tripper oder Schanker bist du lange noch kein Kranker.« Dr. Livingstone stieß ein kurzes, bellendes Lachen aus, dann wurde er wieder ernst. »Ich war über zehn Jahre Militärarzt, müssen Sie wissen, da hatte ich täglich mit solchen Kriegsverletzungen zu tun. Was glauben Sie, wie viele von zehntausend Männern wohl infiziert sind?«
Paxton holte tief Luft. Was für einen Ton sich dieser Mensch herausnahm! Nur weil er einen weißen Kittel trug, bildete er sich wohl ein, er wäre der liebe Gott … Am liebsten hätte Paxton ihn in die Schranken gewiesen, doch da Dr. Livingstone als der beste Facharzt für venerische Krankheiten in ganz England galt,beherrschte er sich und sagte nur: »Um offen zu sein, ich habe mich mit dieser Frage noch nicht beschäftigt.«
»Dann will ich es Ihnen verraten: In einer durchschnittlichen Großstadt über achtzig, in Hafenund Universitätsstädten sogar über zweihundert! Der Tripper ist die mit Abstand häufigste Krankheit in der erwachsenen männlichen Bevölkerung, das Kriegsministerium hat das in zahlreichen Statistiken bewiesen. Dabei erwächst die Schweinerei immer aus dem einzigen Vergnügen, das dem Frontsoldaten bleibt – eine ziemliche Gemeinheit der Natur, wenn Sie mich fragen. Ich hoffe nur, es hat wenigstens Spaß gemacht. Ein bisschen Urlaub von der Ehe, wie?«
Paxton wollte etwas erwidern, doch Dr. Livingstone schnitt ihm das Wort ab, bevor er
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