Die Rebellin
Taschentücher auf dem Boden, getränkt mit ihren Tränen, zeugten von der Wahrheit, die sie in diesem Zimmer einschloss wie ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab, eine Wahrheit, die ihr Leben für immer zerstörte.
Wie hatten ihre Instinkte nur so versagen können?
Emily wusste, auf diese Frage gab es keine Antwort. Sie hatte gegen ein Gesetz verstoßen, das so alt war wie die Natur selbst,das in jeder Pflanze, in jedem Tier, in jedem Menschen verankert war, ein für die Erhaltung der Arten so notwendiges Gesetz wie das Bedürfnis aller Lebewesen nach Nahrung oder Selbstvermehrung. Jedes Volk der Erde respektierte es, wahrte es als ein Tabu, dem es sein Überleben und seine Entwicklung verdankte, und belegte es mit Ächtung und Strafe, nicht nur die Völker Europas, auch die primitivsten Eingeborenenstämme Afrikas oder Australiens. Sie aber, Emily Paxton, hatte das Gesetz gebrochen, sich an dem Tabu wider Gott und die Natur versündigt, war blind gewesen gegen alle Zeichen, die ihr hätten ins Auge springen müssen: Victors Ähnlichkeit mit ihrem Vater, sein kräftiges Kinn, die gerade hohe Stirn, der gedrungene Nacken, sein aufbrausendes Temperament, sogar die Vorliebe für Steckrüben teilten sie … Und dann seine Ähnlichkeit mit ihr selbst – der Schnitt seiner Augen, die geschwungene Linie seiner Brauen, die ovale Form seiner Fingernägel. Er war der einzige Mensch, den Emily außer sich und ihrem Vater kannte, der den Daumen bis an den Unterarm zurückbiegen konnte, und wenn Victor sich freute, erschrak oder einfach nur überrascht war, biss er sich immer auf die Lippe, genauso wie sie es selbst in solchen Momenten tat … Wie konnte es sein, dass sie diese Zeichen übersehen hatte? Hatte sie sie nicht sehen
wollen?
Weil sie ihrem eigenen, abartigen, widerlichen Verlangen im Weg standen? Jetzt begriff sie, warum ihre Eltern alles darangesetzt hatten, sie und Victor zu entzweien, warum sie ihn aus Chatsworth und später von der Baustelle im Hyde Park vertrieben hatten wie einen Verbrecher. Nicht aus Boshaftigkeit oder Standesdünkel oder Herzlosigkeit, wie Emily geglaubt hatte – nein, aus Verantwortung und Fürsorge hatten sie so gehandelt, hatten sie so handeln
müssen
, um sie und Victor vor sich selber zu beschützen … Fast wünschte Emily, ein Konstabler käme und führte sie ab, um sie in ein Zuchthaus zu werfen, damit sie dort den Rest ihrer Tage in der Finsternis verbrachte. Doch nichts geschah. Sie lag auf ihrem Bett und ihr Leben gingweiter, als wäre nichts passiert, ungerührt von ihrer Schande und Verderbnis.
»Emily!« Ihre Mutter klopfte an der Tür.
Doch Emily regte sich nicht. Den Kopf in die Kissen vergraben, weinte sie Tränen, die so trocken waren wie Wüstensand.
»Emily! Das Essen ist fertig! Komm, mach endlich auf!«
Ihre Mutter rüttelte an der Türklinke, rief ihren Namen, wieder und wieder, erinnerte sie an den Ball, den der Herzog von Devonshire am Abend zu Ehren ihres Vaters gab, versprach ihr ein neues Kleid, eine Enzyklopädie, ja sogar ein eigenes Pferd, wenn sie nur die Tür öffnen würde. Emily hörte es, aber es ging sie nichts an, so wenig wie der Geruch des Bratens, der durch die geschlossene Tür in ihr Zimmer drang.
»So nimm doch Vernunft an! Es gibt Lammkeule – dein Lieblingsgericht! Komm doch, mein Kind. Bitte.«
Emily drehte sich um und schaute aus dem Fenster. In der Ferne sah sie den Kristallpalast. Majestätisch erhob sich die gläserne Kuppel vor dem blauen Himmel, während die Strahlen der Sonne sich tausendfach in den Scheiben brachen. Wozu sollte sie essen? Sie konnte sich nicht vorstellen, je wieder einen Bissen über die Lippen zu bringen, und wenn sie verhungerte. Ihr Leben war vorbei, ohne Pläne, ohne Hoffnung, ohne Furcht.
Irgendwann schlugen im Erdgeschoss Türen, und eine Kutsche rollte an.
10
»WAS hast du Emily gesagt?«
»Die Wahrheit. Über Victor und dich!«
Joseph Paxton hatte das Gefühl, als würde sich plötzlich die ganze Guildhall, unter deren Arkaden der Herzog von Devonshireihm zu Ehren den Ball veranstaltete, im Dreivierteltakt drehen. Er geriet aus dem Tritt und stolperte auf die Schleppe von Sarahs Abendkleid.
»Reiß dich zusammen«, zischte sie. »Die Königin schaut schon zu uns herüber.«
Tatsächlich, Queen Victoria, die keine zwei Schritte von ihnen entfernt in den Armen von Prinz Albert an ihnen vorüberschwebte, lachte über das ganze Gesicht. Sie liebte diesen verrückten Tanz aus Wien, bei dem
Weitere Kostenlose Bücher