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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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einem Buch oder einer Handarbeit ein.
    Aufpassen musste Emily allerdings wegen Georgey. Ihr kleiner Bruder war so neugierig, dass er selbst im Schlaf noch mit spitzen Ohren lauschte, und wenn er aufwachte und sie entdeckte, würde er sie mit Sicherheit verpetzen. Ohne Licht stieg sie darum die Kellertreppe hinab. Durch das Fenster sah sie draußen Victor, der auf der anderen Straßenseite unter einer Laterne auf sie wartete. Sie hatten ausgemacht, dass er sie warnte, falls Gefahr in Verzug war.
    Emily nahm die größte Reisetasche, die sie im Kleiderkeller finden konnte, und packte als Erstes warme Wintersachen ein, die hier unten während des Sommers in mehreren Schränken verstaut waren. Victor hatte Recht, es wäre verrückt gewesen, auf ihre Kleider zu verzichten. Sorgfältig achtete sie darauf, nur solche Sachen mitzunehmen, die auch wirklich ihr gehörten. Lediglich eine Flasche Weißwein, die sie aus dem Gewölbekeller nebenan holte und zwischen zwei dicken Strickjacken verstaute, schloss sie von dieser Regel aus.
    Ihre Tasche war schon ziemlich schwer, als sie in den ersten Stock hinaufging, wo die Schlafund Kinderzimmer lagen. Auf dem Treppenabsatz sah sie durch den Türspalt Miss Cutney in der Bibliothek. Das alte Kindermädchen saß wie immer in demgroßen Ohrensessel, das Kinn war ihr auf die Brust gesunken, das Strickzeug ruhte in ihrem Schoß. Emily schob den Türspalt noch ein bisschen weiter auf. Rücken an Rücken standen die Bücher in den Regalen. Eines davon, ein ganz bestimmtes, würde sie liebend gerne mitnehmen … Sollte sie es riskieren? Miss Cutney hatte einen festen Schlaf, und die Bücher der Autoren, deren Namen mit
D
anfingen, befanden sich gleich links neben dem Eingang.
    Auf Zehenspitzen betrat sie den Raum. Sie folgte einfach den Romanen von Charles Dickens und Daniel Defoe, die sie schon als Kind zu dem Buch geführt hatten, nach dem sie nun suchte, weil sie seit jeher im selben Regal standen. Und tatsächlich, da entdeckte sie auch schon den Titel, in goldenen Lettern prangte er ihr entgegen, keine Armlänge entfernt:
Reise um die Welt
. Verwundert stellte sie fest, dass das Buch immer noch mit ihren eigenen Merkzetteln versehen war. Die hatte sie früher überall dort zwischen die Seiten gelegt, wo sie auf eine Stelle im Text gestoßen war, die sie nicht verstanden hatte und über die sie mit ihrem Vater sprechen wollte.
    Plötzlich hörte sie hinter sich einen kurzen, heftigen Schnarchlaut. Erschrocken drehte sie sich um. Miss Cutney hatte die Augen aufgerissen und starrte sie an wie ein Gespenst.
    »Miss Cutney?«, flüsterte Emily. »Keine Angst, ich bin’s.«
    Doch die alte Kinderfrau reagierte nicht. Sie saß nur da und starrte ins Nichts, auch als ihr das Strickzeug vom Schoß rutschte und das Wollknäuel vor ihren Füßen über den Boden rollte. Emily atmete auf. Anscheinend schlief Miss Cutney nur mit offenen Augen weiter. Sie nahm das Buch aus dem Regal und huschte hinaus.
    Keine Minute später war sie in ihrem Schlafzimmer. Dort war es so dunkel, dass sie ein Licht anzünden musste. Im schwachen Schein der Petroleumlampe sah sie sich um. Der Raum war ein Museum ihres eigenen vergangenen Lebens. Viele der Gegenstände stammten noch aus ihrem Kinderzimmer in Chatsworth:der schwarze afrikanische Schrumpfkopf zwischen zwei über Kreuz hängenden Pfeilen, die aufgespießten Schmetterlinge mit ihren reglosen Flügeln, der ausgestopfte Luchs und die Eule, die Blindschleichen in den Spirituskolben, die sich in der trüben Flüssigkeit immer noch zu winden schienen … Nur der kleine Labortisch in der Ecke war erst Jahre später hinzugekommen. Darauf hatte sie mit ihrem Vater künstliche Lebewesen erzeugt, kleine Insekten, die in Scharen über den Tisch gekrabbelt waren. Es war das aufregendste Experiment gewesen, das sie je zusammen gemacht hatten, und zu ihrem grenzenlosen Erstaunen war es ihnen wirklich geglückt. Ob ihr Vater sie damit auch betrogen hatte? Emily trat an den Kleiderschrank und öffnete beide Türen. Ein feiner, seit frühester Kindheit vertrauter Duft von Lavendel schwebte ihr entgegen, und für einen Moment wurde ihr ganz blümerant. Doch jetzt war keine Zeit für falsche Gefühle! Sie riss sich zusammen, und mit einer Konzentration, die sie selbst beeindruckte, packte sie alle brauchbaren Dinge ein, die sie in der Eile fand: Strümpfe und Unterwäsche, ein Kistchen Seife und ein Nageletui, ein Armband, das Tante Rebecca ihr zum vierzehnten Geburtstag

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