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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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kann.«

6
     
    Der braune Wallach stampfte unruhig im Geschirr, während Sarah Paxton in Henry Coles Cabriolet vor der Redaktion des
Northern Star
wartete. Mit schmerzlichen Gefühlen beobachtete sie die eleganten Damen, die auf dem Bürgersteig an ihr vorübereilten, um vor Schließung der Geschäfte noch rasch ihre letzten Besorgungen zu machen. Wie oft war sie diese Straße mit Emily entlanggegangen, gefolgt von Jonathan, der die Einkaufspakete für sie trug, auf dem Weg nach Hause oder ins
Café Royal
. Was für unbeschwerte Zeiten waren das gewesen …
    Es schlug gerade acht, als Cole auf die Straße zurückkehrte.
    »Haben Sie herausgefunden, wo Emily wohnt?«, fragte sie, als er neben ihr Platz nahm.
    Cole wich ihrem Blick aus. »Das leider nicht«, sagte er. »Aber ich habe die Adresse der Fabrik, in der sie arbeitet.«
    »Was? Emily arbeitet in einer Fabrik?«
    »Ja, Mrs. Paxton, in einer Baumwollweberei. Der Redakteur meint, wir hätten gute Chancen, sie jetzt dort anzutreffen.«
    »Um diese Zeit? Es ist doch schon Abend.«
    »In den meisten Fabriken wird auch nachts gearbeitet, Madam. Maschinen sind teuer, sie müssen sich drehen, damit sie sich rentieren.« Cole beugte sich vor und tippte dem Kutscher auf die Schulter. »Phoenix Place!«
    »Hauptsache, wir haben ihre Spur.« Sarah legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich bin Ihnen ja so dankbar, Mr. Cole. Ich wüsste nicht, was ich ohne Sie tun sollte.«
    Mit einem Seufzer lehnte Sarah sich zurück. Ohne ihren Mann fühlte sie sich so allein wie eine Witwe. Emily war immer Josephs Liebling gewesen, und sie selbst hatte unter der innigen Beziehung der beiden in all den Jahren ihrer Ehe fast so sehr gelitten wie unter seinen Seitensprüngen. Aber jetzt, als es darauf ankam, als Emily ihren Vater wirklich einmal brauchte, war ernicht da, um sich um sie zu kümmern. Herrgott im Himmel, konnten die in Derby nicht ohne ihn ihre Bilanzen aufstellen?
    »Georgey hatte es geahnt«, murmelte sie.
    »Wie bitte?«, fragte Cole.
    »Unser Ältester – er hat es ihren Händen angesehen. Die sähen ja aus wie von einer Fabrikarbeiterin, hat er gesagt. Nur mein Mann und ich haben nichts gemerkt. Wie konnten wir nur so blind sein?«
    »Bitte beruhigen Sie sich, Mrs. Paxton. Vielleicht ist ja alles viel harmloser, als wir denken.«
    »Harmloser?«
    »Ja, warum nicht?« Cole nickte ihr aufmunternd zu. »Ihre Tochter ist der wissbegierigste Mensch, den ich kenne. Sie will allen Dingen auf den Grund gehen, das ganze Leben erforschen, die Geheimnisse der Natur – eine geborene Wissenschaftlerin. Vielleicht arbeitet sie ja nur in der Fabrik, um auch diese Seite des Lebens kennen zu lernen.«
    »Gott gebe, dass Sie Recht haben, Mr. Cole.«
    Inzwischen war es fast dunkel geworden, und entlang der Straße wurden die ersten Laternen angezündet. Je weiter sie in Richtung Norden kamen, desto ärmlicher wurde die Gegend. Die niedrigen, windschiefen Häuser lehnten aneinander, als müssten sie sich gegenseitig stützen, und auf den Bürgersteigen trieb sich ein Gesindel herum, dass Sarah angst und bange wurde. Konnte es wirklich sein, dass Emily in einem solchen Viertel lebte, unter solchen Menschen? Sie musste an die Bilder des
Northern Star
denken, von denen sie nun wusste, dass sie von ihrer Tochter stammten, Bilder von Rattentötern und Taschendieben, von Bettlern und Säufern. Bei der Vorstellung, dass Emily ihnen ganz nahe gekommen sein musste, um sie zu zeichnen, zog sich ihr das Herz zusammen.
    »Brrrrrr …«
    Das Cabriolet hielt vor einem riesigen Backsteingebäude, das sich wie ein Schloss zwischen den Arbeiterhäuschen ausnahm.
    Baumwollspinnerei und Weberei Hopkins
stand auf dem Schild über dem Tor. Am Ende der Straße erhob sich über einer zweiten, noch höheren, mit Stacheldraht bekrönten Backsteinmauer ein schwarzer Mühlenflügel in den nächtlichen Himmel empor. Sarah öffnete den Wagenschlag, doch Cole machte keine Anstalten, von seinem Platz aufzustehen.
    »Worauf warten Sie?«, fragte Sarah. »Wollen Sie nicht aussteigen?«
    »Um ganz ehrlich zu sein, Mrs. Paxton. Ich habe ein wenig Angst, Ihrer Tochter zu begegnen.«
    »Unsinn! Dazu besteht keine Veranlassung.«
    »Verzeihen Sie, wenn ich widerspreche, aber ich sollte Ihnen vielleicht noch etwas erklären, bevor wir Emily sehen. Besser, Sie erfahren es von mir als von ihr.«
    »Muss das wirklich jetzt sein, Mr. Cole?«
    »Ja, Madam. Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Ich … ich war nicht immer ganz

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