Die Rebellin
abgereist, nachdem er ihren Brief bekommen hatte, vielleicht hatte er auf irgendeinem Schiff angeheuert, das gerade ausgelaufen war, nach Amerika oder Indien oder Australien … Plötzlich hatte Emily solche Sehnsucht nach ihm, dass sie am liebsten auf und davon gerannt wäre. Doch sie durfte es nicht. Sie durfte ihn nicht wieder sehen.
»Das ist Sünde, mein Kind.«
»Was? Wovon sprichst du?«
Tante Rebecca schaute sie aus tausend Runzeln an, wie früher Pythia, ihre alte weise Schildkröte. »Man darf keine Tiere töten, nicht mal Insekten. Sie sind doch Gottes Geschöpfe, genauso wie du. Stell dir vor, ein Riese käme herein, wie in
Gullivers Reisen
, und würde dich mit seinem Daumen zerquetschen.«
»Du hast Recht, Tante Rebecca. Das darf man nicht.«
Emily nickte. Doch in Wirklichkeit beneidete sie das tote Tierchen auf dem Rand der Schale, und je länger ihre Tante redete, irgendwelche Geschichten erzählte von einem Nachbarn und dessen Frau, die Emily noch nie gesehen hatte, wurde ihr Neid immer stärker. Das, was eben noch eine Ameise gewesen war, war nur noch winziger brauner Fleck, ein bisschen zerquetschte Materie, ohne Seele und ohne Bewusstsein. Spätestens morgen früh würde Tante Rebeccas Haushälterin ihn mit einem Lappen fortwischen, und dann würde niemand mehr wissen, dass er je existiert, dass dieser kleine braune Fleck sich je bewegt hatte – ein Lebewesen, das Hunger und Durst und Schmerz empfand. Emily wünschte sich, sie könnte genauso im Nichts verschwindenwie das Insekt. Doch sie war da, sie lebte, existierte, würde es noch Jahre und Jahrzehnte tun, mit ihrer Sehnsucht und mit ihrem Schmerz. Weil ihr Vater sie gezeugt hatte.
»Und dann hat er sich umgebracht.«
Emily zuckte zusammen. »Wer hat sich umgebracht, Tante Rebecca?«
»Mr. Pilgrim, mein Nachbar, von dem ich die ganze Zeit rede. Er hat sich erschossen, weil seine Frau mit einem Rittmeister durchgebrannt war.« Tante Rebecca schüttelte ihren alten, welken Kopf. »Aber deswegen darf sich niemand umbringen. Das ist genauso Sünde, wie wenn man einen anderen Menschen umbringt.«
Plötzlich sah Emily Victor vor sich: seine dunklen Augen, die sich oft mit solcher Trauer füllten, um dann vor Wut und Jähzorn aufzublitzen, wenn jemand den Flaschengeist in ihm weckte … War sie wahnsinnig gewesen, ihm diesen Brief zu schreiben? Wenn er diesen Brief las, würde er nicht nach Amerika oder Indien oder Australien fahren. Er würde den Verstand verlieren!
»Ich muss zurück nach London«, sagte sie und sprang vom Sofa auf.
»Wie bitte?« Tante Rebecca legte ihre Hand ans Ohr. »Sprich lauter, Kind, damit ich dich verstehen kann.«
13
»Du hast unsere Tochter aus dem Haus getrieben!«, rief Joseph Paxton.. »Mit einer gottverdammten Lüge!«
»Lüge? Das behauptest
du!«
Sarah konnte nur mit Mühe die Tränen unterdrücken. »Ich weiß doch genau, dass du damals ständig mit dieser Person …« Die Worte erstickten in ihrem Taschentuch. Sie kehrte Paxton den Rücken und schaute zumFenster hinaus. »Du hast für sie und ihren Bastard gesorgt wie für eine Familie. Sogar als sie Chatsworth verlassen mussten, hast du ihnen noch Geld gegeben. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Gar nichts weißt du, nichts hast du gesehen!«, sagte Paxton. »Das war alles nur deine krankhafte Einbildung. Und deine verfluchte Eifersucht.«
»Ich wollte, es wäre so«, erwiderte sie leise. »Aber ich kann es nicht glauben.«
»Weil du es nicht glauben willst!«
»Ach, Joseph, wie soll ich das denn können? Nach allem, was du mir angetan hast.«
»Ganz einfach – indem du mir vertraust.«
»Dir vertrauen?« Sie drehte sich um und blickte ihn an. »Wenn du willst, dass ich das tue, dann sag mir bitte eins.«
»Nämlich?«
Ihre Augen waren feucht von Tränen. »Warum hast du mich kein einziges Mal mehr angerührt, seit du aus Paris zurück bist?«
»Herrgott, Sarah! Was soll denn diese Frage? Du weißt doch, wie viel ich am Hals habe. Ich … ich bin am Ende meiner Kräfte.«
»Und was ist das für ein Ding, das du neuerdings trägst? Meinst du, ich hätte das nicht bemerkt?«
Paxton biss sich auf die Lippe. Er hatte immer darauf geachtet, dass er allein im Zimmer war, wenn er sich ankleidete, aber einmal war Sarah genau in dem Moment ins Bad gekommen, als er sein Suspensorium anlegte. Sie hatte nie davon gesprochen, und er hatte schon gehofft, dass sie nichts gesehen hatte. Doch offenbar hatte er sich geirrt.
Er ging auf sie
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