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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Victor Springfield, der er angeblich war, in diesem Augenblick erfüllten.
    Joseph Paxton, sein ewiger Widersacher, sein ewiger Verfolger, der wie ein Fluch über seinem Leben hing, der Mann, vor dem seine Mutter ihn immer gewarnt hatte – dieser Mann war sein Vater.
    Laut stöhnend schloss Victor die Augen. Jetzt begriff er, warum dieser Mann ihn verfolgte wie ein Dämon, begriff er sein ganzes verfluchtes Leben … Es war, als würde ein Blitz eine nächtliche Landschaft erhellen, die zuvor in der Dunkelheit verborgen war. Alles war ihm jetzt klar, jede Gemeinheit, jedes Unrecht, das Joseph Paxton ihm zugefügt hatte, bekam seinen Sinn. Und während Victor sich mit der Hand gegen die Stirn schlug, wieder und wieder, ohne einen Schmerz zu spüren, kreiste nur dieser eine Gedanke in seinem Kopf: Er war Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blut, und was immer er in seinem Leben tat, niemals würde er diesem Mann entkommen, sich niemals aus seiner Umklammerung befreien, unentrinnbar gefangen, weil sein Verfolger in ihm selber saß, in jeder Faser seines Leibes, in jeder Windung seiner Seele, mit seinen Lungen atmete, mit seinem Herzen empfand, mit seiner Zunge sprach.
    »Kannst du dir vorstellen, was das heißt? Was für ein Gefühl dasist, sein Blut in den Adern zu haben? Das Blut eines Mörders? Und es gibt keine Möglichkeit, dass es je aufhört …«
    Emily hatte diese Worte im Kristallpalast zu ihm gesagt. Damals hatte er ihre Bedeutung nur erahnt, doch jetzt verstand er sie. Vor ihm auf dem Tisch, zwischen dem Brief und dem dampfenden Teller Eintopf, stand die Flasche Wein, die er von seinem letzten Geld gekauft hatte, für das Fest von Emilys Rückkehr, auf die er bis vor ein paar Augenblicken noch wie ein Idiot gehofft hatte. Er nahm die Flasche, riss das Seidenpapier fort, in das sie eingewickelt war, und stieß mit dem Daumen den Korken in den Hals.
    »Es ist, als müsste man in einer Zwangsjacke leben, und man kommt nie wieder aus ihr raus …«
    Victor setzte sich die Flasche an die Lippen und trank, in langen gierigen Schlucken, wie ein Verdurstender, als wäre es nicht Wein, den er trank, sondern Vergessen, trank bis zur bitteren Neige, mit geschlossenen Augen, um nichts mehr zu sehen als die Dunkelheit in ihm selbst und nichts mehr zu hören als das langsame, gleichmäßige, glucksende Geräusch, während sein Adamsapfel sich hob und senkte.
    Irgendwann war die Flasche leer. Er warf sie auf den Boden und wischte sich über den Mund. Und während er spürte, wie mit dem Alkohol allmählich wieder die Kraft in seinen Adern sich regte, fasste er einen Entschluss. Er nahm Emilys Brief, zündete ihn mit einem Streichholz an und verbrannte ihn in seiner Hand. Es war, als würde er sich bei lebendigem Leib das Herz ausreißen. Doch er musste es tun, musste alles, was ihn an sie erinnerte, in sich auslöschen, seine Erinnerungen, seine Sehnsucht nach ihr, damit nur noch sein Hass übrig blieb, sein Hass auf Joseph Paxton, der von seiner Liebe zu Emily fast erstickt worden wäre. Und während er zusah, wie das Papier sich vor ihm schwärzte, wie ihre Sätze und Worte und Buchstaben allmählich zu Asche wurden und zerfielen, leicht wie ein Abendhauch, spürte er voller Genugtuung, wie jedes andere Gefühl sich in seinem Innernverlor, wie er frei wurde von allen Rücksichten und Skrupeln, um das Äußerste zu tun.
    Seine Liebe hatte ihn verblendet, sein Hass würde ihn befreien. Endlich konnte Victor wieder denken. Er ging an sein Bett und holte unter der Matratze einen Plan hervor, der tief unter den anderen Plänen verborgen lag. Er hatte einen Weg gefunden, wie er aus der Umklammerung seines Vaters entkommen konnte, den einzigen Weg, den es für ihn gab, und er war bereit, ihn zu gehen, bis ans Ende.
    »Ich wünschte, das alles hier fliegt in die Luft, sein ganzer verfluchter Kristallpalast …«
    Sorgfältig breitete er den Plan auf dem Fußboden aus: eine exakte Wiedergabe der großen Dampfmaschine, die er im Untergrund des Kristallpalasts befeuerte, mit allen Zuleitungen und Ventilen. Victor beugte sich über die Zeichnung und spürte den Linien nach, mit seinen Augen, mit seinen Fingern, um die Maschine bis in ihre letzte Verwinkelung zu begreifen.
    »Brauchst du vielleicht Hilfe?«
    Beim Klang der Stimme schrak Victor auf. Er hatte gar nicht gehört, dass jemand gekommen war.
    »Du?«
    In der Tür stand Robert. Er hielt ein kleines schwarzes Kästchen in die Höhe und grinste ihn an. »Ich wollte

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