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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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dir den Zünder bringen. Ich dachte, es ist doch bald so weit.«

12
     
    »Nimm noch einen Keks, Kind! Oder schmecken dir meine Plätzchen nicht?«
    »Doch, Tante Rebecca. Danke.«
    Mechanisch griff Emily nach der Wedgwood-Schale, die aufeinem Brokatdeckchen vor ihr auf dem Teetisch stand. Seit drei Tagen war sie in Manchester, das Geld für die Fahrt hatte sie aus dem Haushaltsportemonnaie genommen, als ihre Eltern auf dem Ball in der Guildhall waren. Durch die Flucht zu ihrer Tante hatte sie ihre frühere Lüge zur Wirklichkeit gemacht – der letzte Ausweg, der ihr noch blieb. Hier würde sie den Rest ihres Lebens verbringen, auf dem alten, dunkelroten Plüschsofa, auf dem schon Generationen ihrer Vorfahren gesessen hatten, zwischen ausladenden Palmen und bronzenen Nippesfiguren, im Schein einer trüben Öllampe, und trockene Kekse kauen, die wie Sand in ihrem Mund knirschten, während kriechend langsam die Zeit verging, die Minuten und Stunden und Tage, die Wochen und Monate und Jahre, bis es endlich aufhören würde, bis es sie selbst endlich nicht mehr gab.
    »Und hast du deinen Eltern geschrieben, dass du gut angekommen bist?«
    »Ja, Tante Rebecca.«
    »Wie bitte?«
    »
Ja
, Tante Rebecca.«
    Emily hatte sich nicht entscheiden können, ob sie nach Chatsworth oder nach Manchester fahren sollte, um der Gegenwart ihres Vaters zu entfliehen.
    Die Vorstellung, nach Chatsworth zurückzukehren, zu dem Park und dem Glashaus und dem Seerosenteich, wo ihr Kakadu fortwährend »Leben! Leben!« krächzte, als würden die alten Wahrheiten noch gelten, war ihr ebenso unerträglich gewesen wie der Gedanke, für immer im Totenhaus ihrer Tante begraben zu sein. Pythia hatte ihr die Entscheidung nicht abnehmen können. Als sie ihre Schildkröte um Rat fragen wollte, hatte Emily gemerkt, dass sie nicht mehr lebte – ihr schrumpliger Leib hatte unter dem Panzer schon nach Verwesung gerochen. Auch das war Emilys Schuld gewesen, sie hatte Pythia aus dem zweiten Winterschlaf geweckt, und was immer sie in Zukunft tat, von nun an würde sie sich selbst entscheidenmüssen. Nur gut, dass es in Zukunft nichts mehr für sie zu entscheiden gab.
    »Schau dir diese Biester an!« Tante Rebecca zeigte auf eine Ameise, die sich in die Wedgwood-Schale verirrt hatte. »Wollen uns tatsächlich die Kekse wegfressen. Hat dein Vater nicht mal solche Viecher gezüchtet?«
    »Ja, Tante Rebecca.«
    »Und? Tut er das immer noch?«
    »Ich weiß nicht, Tante Rebecca. Ich glaube nein.«
    Emily erinnerte sich, sie war siebzehn Jahre gewesen, als ihr Vater das Experiment gemacht hatte. Er hatte es einem Buch entnommen, das damals in ganz England für Aufsehen sorgte, die »Natürliche Geschichte der Schöpfung«. Um die Insekten zu erzeugen, hatte er eine voltaische Batterie auf eine Lösung von kieselsaurem Kali wirken lassen. Das Fluidum war ganz trübe geworden und hatte ausgesehen wie Milch, während um einen Pol der Batterie sich eine gallertartige Masse bildete. Und dann waren die Ameisen, oder was für Wesen das immer gewesen waren, tatsächlich an die Oberfläche gekrabbelt, vor Emilys Augen, Dutzende, Hunderte, ganze Scharen … Der Schullehrer von Chatsworth hatte das Experiment für Unsinn erklärt; er hatte Emily ausgelacht, als sie ihm davon erzählte, und der Pfarrer hatte gesagt, allein der Gedanke daran sei eine Beleidigung Gottes. Sie aber hatte ihren Vater verteidigt, sie hatte ja selbst gesehen, dass er künstliches Leben erschaffen konnte. Jetzt glaubte sie nicht mehr daran. Jetzt glaubte sie nur, dass er
sie
erschaffen hatte, seine Tochter. Und Victor, seinen Sohn. Mit dem Daumen zerquetschte sie die Ameise auf dem Rand der Schale.
    »Wie lange soll der Rummel in London noch dauern?«
    »Welcher Rummel, Tante Rebecca?«
    »Diese Kirmes … Dieser Jahrmarkt … Diese Welt-aus-stellung.«
    »Ach so. Nur noch zwei Tage.«
    Emily betrachtete den braunen Fleck auf dem weißen Porzellan.
    Ja, übermorgen hätte der große Tag sein sollen, der Tag ihrer Wiedergeburt. Die Erinnerung an ihren Plan erfüllte sie mit einem Gefühl elender Ohnmacht. Nichts würde geschehen, nichts würde passieren. Die Königin würde am Arm des Prinzgemahls die Hallen durchschreiten, es würde ein wenig Gedränge geben – ein Jubeltag wie schon so viele andere zuvor in der falschen Welt des Kristallpalasts, während sie selbst hier bei ihrer Tante saß, Hunderte Meilen von Victor entfernt. Ob er überhaupt noch in London war? Vielleicht war er ja schon

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