Die Rebellin
Schlüssel, Mrs. Bigelow?«
»So was tue ich eigentlich nicht«, sagte die Wirtin und wackelte mit dem Kopf. »Aber weil Sie’s sind, Schätzchen.« Umständlich holte sie einen Schlüsselbund unter der Schürze hervor. »Na, dann wollen wir mal sehen.«
Emily schloss die Augen. Tausend Schreckensbilder stürzten auf sie ein. Und aus allen blickte Victor sie an, aus einem weißen, erstarrten Gesicht.
Quietschend ging die Tür auf. Emily holte Luft und öffnete die Augen.
»Ausgeflogen«, sagte Mrs. Bigelow. »Nicht mal den Eintopf hat er angerührt.«
Victors Bett war leer, genauso wie die ganze Kammer. Nur eine Zeichnung lag auf dem Boden. Emily kannte sie – eine von den Zeichnungen, die Victor und sie aus dem Büro ihres Vaters entwendet hatten.
»Tja, dann ist er wohl bei der Arbeit, wie es sich gehört«, sagte Mrs. Bigelow.
Emily trat in die Kammer. Alles schien wie immer: kein umgestürzter Stuhl, kein Strick, der von der Decke hing, nur auf dem Boden lag eine leere Weinflasche. Sie war so erleichtert wie selten in ihrem Leben. Ja, die Wirtin hatte Recht, natürlich war Victor im Kristallpalast, bei der Arbeit – wie hatte sie nur etwas anderes denken können?
Mrs. Bigelow nahm den Teller vom Tisch. »Das räumen wir jetzt mal ab. Und dann kommen Sie mit mir nach unten, und wir zwei warten zusammen in meiner Wohnung, bis er wieder da ist. Was halten Sie davon?«
»Gerne, Mrs. Bigelow. Wenn es Ihnen keine Umstände macht.« Emily bückte sich, um die Flasche aufzuheben. Als sie sie in das Regal über der Spüle stellte, stutzte sie. An der Wand lehnte ein Brief, sorgfältig auf dem Regalbrett aufgestellt, als solle jeder, der die Kammer betrat, ihn dort sehen.
»Ich komme gleich nach«, rief sie der Wirtin zu.
Emily spürte, wie ihr Herz wieder zu rasen anfing. Wie oft hatte sie in der Zeitung von solchen Briefen gelesen, die man in leeren Wohnungen fand … Während Mrs. Bigelow auf dem Flur verschwand, wagte Emily kaum, den Umschlag anzuschauen. Er trug Victors Schrift und war an die Polizei adressiert.
An die Polizei? Was hatte das zu bedeuten?
Mit zitternden Fingern öffnete sie das Kuvert.
Als sie die ersten Zeilen sah, atmete sie auf. Nein, das war kein Abschiedsbrief, wie sie eine schreckliche Sekunde lang befürchtet hatte, sondern eine politische Botschaft. Emily erkannte mehrere Sätze aus dem Flugblatt wieder, das sie zusammen verfasst hatten, über das falsche Paradies, das England und die ganze Welt im Kristallpalast feierten. Offenbar war Victor entschlossen, die Tat allein auszuführen.
»Wo bleiben Sie, Schätzchen?«, rief Mrs. Bigelow aus dem Treppenhaus herauf.
»Nur einen Moment, ich komme gleich.«
Emily drehte den Brief um. Seltsam, wenn Victor die Tat allein ausführen wollte, warum machte er dann der Polizei ein Geständnis? Vielleicht, weil er direkt nach der Tat das Land verlassen würde? Das wäre eine mögliche Erklärung – doch auch ein unerhörter Leichtsinn. Wenn die Polizei den Brief fand, bevor sein Schiff auf See war, würde man ihn fassen und ins Gefängnis stecken.
Eilig überflog Emily die restlichen Zeilen.
Plötzlich stockte ihr der Atem. Die vertrauten Sätze aus dem Flugblatt gingen in eine andere Sprache über, in eine Botschaft, die Emily so fremd war, als hätte Victor sie auf Chinesisch niedergeschrieben. Sie war so irritiert, dass sie in der Eile kaum den Sinn der Worte erfasste. Sie las den letzten Abschnitt ein zweites, ein drittes Mal.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden von dem falschen Paradies nur noch Schutt und Asche übrig sein. Für diese Tat übernehme ich die volle und alleinige Verantwortung. Ich habe sie ohne Hilfe irgendeiner anderen Person ausgeführt …
Fassungslos starrte Emily auf das Blatt Papier in ihrer Hand. Erst jetzt entdeckte sie das Postskriptum, das Victor unter seinem Namenszug hinzugefügt hatte:
Der Mensch, den ich liebe und bis zu meinem letzten Atemzug lieben werde, wird mich verstehen. Dass ich keine andere Möglichkeit hatte, mir selbst und meinem Schicksal zu entkommen.
Emily ließ den Brief sinken. Auf dem Boden lag die Zeichnung einer Dampfmaschine, versehen mit Notizen von Victors Hand. Und während sie voller Entsetzen die Botschaft seines Briefes begriff, sah sie wieder sein Gesicht vor sich, seine sanften, gefährlichen Augen, in die sie schaute, als er in sie eindrang und der Kristallpalast in ihrem Kopf zerbarst.
15
»Vivat! Vivat! Vivat!«
Ein Ruf aus vielen tausend Kehlen kündete von
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