Die Rebellin
aus Konstantinopel mitgebracht hatte, lag reglos auf dem zerwühlten, verlassenen Bett.
11
Wo war Emily?
Victor versuchte, sich auf die Gebäudepläne zu konzentrieren, die er auf dem Boden seiner Kammer ausgebreitet hatte, doch die labyrinthischen Linien auf dem Papier flimmerten nur vor seinen Augen. Sie hatten sich alles so perfekt ausgedacht. Ein Zeichen wollten sie setzen, sichtbar für alle Menschen und Völker der Erde: die Wahrheit über die Weltausstellung – die Wahrheit über Joseph Paxton. Doch seit er Emily zum Haus ihrer Eltern gebracht hatte, war sie fort.
Die ganze Nacht hatte er auf sie gewartet – vergebens. Sie war in dem Eingang verschwunden wie in einer Höhle und nie wieder daraus aufgetaucht. Warum hatte sie ihn nicht gehört? Er hatte doch Steinchen gegen ihr Fenster geworfen, als ihre Mutter erschienen war, bis der verfluchte Konstabler ihn davon abgehalten hatte. Victor verfluchte sich. Er hätte sie nicht gehen lassen dürfen, Emily hatte es ja selbst geahnt, dass sie schwach werden könnte, wenn sie nach Hause zurückkehrte.
Und jetzt? Sollte er den Plan allein ausführen? Er rieb sich mit beiden Händen die Schläfen. Alles war bereit; er hatte den Sprengsatz installiert, auch die Flugblätter waren gedruckt. Aber wer sollte sie von der Galerie werfen, wenn es so weit war? Er konnte einfach nicht glauben, dass Emily ihn im Stich gelassen hatte, auch wenn alle Tatsachen dafür sprachen. Er hatte geschrien vor Lust, als er in sie eingedrungen war, zum ersten Mal bei einer Frau, seit er aus der Zuchtanstalt von Coldbath Fields entlassen worden war, und zusammen waren sie in den Himmel gefahren … Nein, Emily hatte ihn nicht verraten. Auch wenn sie jetzt bei ihren Eltern war, konnte sie immer noch ihren Irrtum erkennen und im letzten Moment im Kristallpalast auftauchen. Vielleicht wurde sie ja gegen ihren Willen zu Hause eingesperrt und wartete nur auf eine Gelegenheit, um zu entkommen.
Da klopfte es an der Tür. Victor sprang auf.
»Emily?«
Aber es war nur Mrs. Bigelow, die mit einem dampfenden Teller seine Kammer betrat.
»Bohneneintopf«, sagte sie. »Ich glaube, den können Sie gebrauchen. Sie sind ja so blass, als hätten sie seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen.« Sie stellte den Teller auf den Tisch. »Was sind das denn für Zeichnungen?«, fragte sie, als sie die Pläne auf dem Boden sah. »Die sehen ja aus wie von einem Architekten. Ich wusste gar nicht, dass Sie so was können.«
»Nur ein Zeitvertreib.« Eilig faltete Victor die Pläne zusammen.
»Und vielen Dank für den Eintopf.«
Er wartete, dass seine Wirtin wieder ging. Doch sie schaute ihn erwartungsvoll an.
»Wollen Sie nicht probieren?«
»Später, Mrs. Bigelow. Ich habe gerade keinen Hunger.«
»Hm, wie Sie wollen«, erwiderte sie enttäuscht. »Aber wärmen Sie ihn vor dem Essen noch mal auf. Kalt schmeckt er nicht.« Mit wackelndem Kopf wandte sie sich ab. Sie stand schon in der Tür, als ihr plötzlich noch was einfiel. »Ach so«, sagte sie und zog einen Brief unter ihrer Schürze hervor, »den hätte ich fast vergessen.«
Als Victor die Handschrift auf dem Umschlag sah, riss er Mrs. Bigelow den Brief aus der Hand.
»Geben Sie her!«
Eine Nachricht von Emily! Während seine Wirtin ihn noch einmal daran erinnerte, ja nicht das Essen zu vergessen, damit er nicht weiter vom Fleisch falle, blickte Victor auf den Umschlag, der wie ein Stück Leben in seiner Hand zuckte.
»Und denken Sie daran, mir den leeren Teller zurückzubringen.«
Endlich verließ Mrs. Bigelow seine Kammer und er war mit dem Brief allein. Was stand darin? Victor wusste, sein Leben hing von dieser Nachricht ab. Er brannte darauf, die Worte zu lesen,die Emily ihm geschrieben hatte, und gleichzeitig fürchtete er sie wie einen gefährlichen Feind. Seine Hände zitterten, und eine lange Weile war er nicht imstande, den Brief auch nur zu öffnen. Doch dann hielt er die Ungewissheit nicht mehr aus.
Kaum hatte er die ersten Zeilen gelesen, sank er auf seinen Stuhl. Wie betäubt starrte er auf die Sätze, die Worte, die Buchstaben – unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Es war, als würde er neben sich sitzen, sich selber zuschauen, wie er auf dieses unscheinbare Blatt Papier starrte, das sein Todesurteil enthielt, während er seine eigene Stimme hörte, in seinem Innern oder nirgendwo, wie sie stammelnd versuchte, das Entsetzen, die Verzweiflung, die Wut zum Ausdruck zu bringen, die diesen fremden Menschen namens
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