Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
wie in einem Traum, und die Dinge, die er zu tun hatte, standen ihm mit solcher Klarheit vor Augen, als würde er in einem Buch lesen. Der Dampfkessel, an dem er arbeitete, war ein moderner Cornwallkessel, der größte und sicherste Kessel der Welt, der mit einer Unmenge von Sicherheitsapparaten ausgestattetwar, um jede mögliche Gefahr im Vorhinein anzuzeigen. Auf den Messgeräten konnte man das Innenleben der ganzen Anlage ablesen, die Dampfspannung, den Wasserstand, ja sogar die Zugstärke in den Rauchkanälen. Trotzdem gab es viele Möglichkeiten, um eine Explosion herbeizuführen, durch eine Erschütterung ebenso wie durch Wassermangel oder das plötzliche Einschießen von kaltem Wasser. Victor hatte sich für die einfachste Möglichkeit entschieden, die Erhöhung der Dampfspannung. Weil sie nicht nur die einfachste war, sondern auch die zuverlässigste.
    Er hatte dafür die Funktionsweise der Anlage genau studiert. Wenn sich das Wasser im Kessel über den Siedepunkt erhitzte, verwandelte es sich in Dampf und dehnte sich bis auf das Tausendfache seines ursprünglichen Volumens aus. Die Kräfte, die dabei entstanden, wirkten mit der Macht von Urgewalten. Fieberhaft wartete Victor jetzt auf den Moment, da er das Absperrventil, das zwischen der Dampfleitung und dem Kessel saß, endlich zudrehen konnte. Sobald das geschehen war, würde es nur noch eine Frage von Minuten sein, bis der Druck im Kessel so stark anstieg, dass die Eisenwände den riesigen Kräften, die sie umschlossen, nicht mehr standhalten konnten und alles explodierte. Um Paddy loszuwerden, hatten Robert und er ausgemacht, dass Robert pinkeln gehen würde. Denn immer, wenn einer der Heizer pinkeln ging, folgte Paddy ihm auf den Fuß, um gleichfalls eine Pause einzulegen. Dann hatte Victor die nötige Zeit, um das Ventil zu schließen, und Robert konnte sich rechtzeitig aus dem Staub machen.
    Victor blickte auf die Uhr an der Wand. Wie oft hatte er auf diese Uhr geschaut, in Erwartung der Sirene, die den Feierabend ankündigte, in Erwartung Emilys. Ein letztes Mal begleitete diese Uhr heute sein Warten. Doch es würde nicht mehr lange dauern. Noch bevor der große Zeiger auf dem Zifferblatt seinen Kreis zu Ende beschrieben hatte, würde er erlöst sein. Erlöst von den Demütigungen seines Lebens, erlöst von sich selbst. Während erdie Kohlen in den Ofen warf, um dem Feuer weitere Nahrung zu geben, tanzten Bilder der Erinnerung in den Flammen vor ihm auf. Bilder von Chatsworth, vom Glashaus, vom ›Paradies‹ am Teich … Bilder von seiner Mutter, die Angst in ihrem Gesicht, als man sie in der Nacht aus dem Dorf vertrieb, Bilder von Toby, wie er in seinem Arm gestorben war … Und immer wieder Bilder von Emily. Der Frau, die er liebte, der Frau, die er nie hätte lieben dürfen, der Frau, die sein Schicksal besiegelte …
Der Mensch, den ich liebe und bis zu meinem letzten Atemzug lieben werde, wird mich verstehen. Dass ich keine andere Möglichkeit hatte, mir selbst und meinem Schicksal zu entrinnen …
Wie ein Gott hatte Joseph Paxton sein Leben bestimmt, hatte ihn zu sich erhoben und fallen lassen, hatte ihm seinen Willen aufgezwungen, um ihn gefügig zu machen, als wäre er sein Werkzeug, sein Organ, sein Körper, war in seinen Leib selbst eingedrungen, in sein Fleisch, in sein Blut, um sich seiner zu bemächtigen. Doch jetzt war die Stunde der Abrechnung da, die Stunde der Befreiung.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden von dem falschen Paradies nur noch Schutt und Asche übrig sein. Für diese Tat übernehme ich die volle und alleinige Verantwortung …
Jede Schaufel Kohle, die Victor in den gierig lodernden Schlund warf, mehrte die Glut, das Fauchen und Bullern, die Hitze, die diese wunderbare Kraft entfaltete, die Kraft, die ihn für immer rächen und befreien würde. Ganz London würde von der Explosion erzittern, bis in die hintersten Winkel des Empires würde die Nachricht dringen, die Telegrafen würden sie rund um den Globus senden, bis nach Australien, bis nach Amerika …
    »Ich glaube, ich muss mal pinkeln«, sagte Robert.
    »Warte«, rief Paddy. »Ich komme mit.«
    Der Augenblick war da. Victor verspürte auf einmal eine Erregung, die zugleich äußerste Konzentration war, ein Zustand vollkommener Wachsamkeit, während die Welt um ihn herum zu schwinden schien. Er kannte diesen Zustand, er hatte ihn schon einmal erlebt, in Emilys Armen … Es war, als wäre er voneiner unsichtbaren Glocke umgeben, alle Geräusche verstummten, und er

Weitere Kostenlose Bücher