Die Rebellin
abzuwenden, wollte sie stattdessen den Ingenieur dazu bewegen, die Dampfleitungen zu überprüfen. Sie hoffte nur, dass er ihr die Geschichte glaubte, die sie sich in der Eile ausgedacht hatte. Wenn nicht, machte sie sich mitschuldig am Tod unzähliger Menschen. Ihr einziger Trost würde dann sein, dass sie zusammen mit ihnen unterging.
»Hier ist der Zutritt verboten!«, fuhr der Ingenieur sie an, als er endlich mit Mr. Plummer erschien. »Erst recht für Frauen!«
»Aber, Mr. Bird, ich habe Ihnen doch gesagt, um wen es sich handelt«, erklärte Mr. Plummer. »Das ist Miss Paxton, die Tochter von …«
»Und wenn sie die Kronprinzessin persönlich wäre – das interessiert mich nicht! Hier unten geschieht, was ich sage!« Durch die Gläser seiner Nickelbrille musterte der Ingenieur sie mit einem hochmütigen Blick. »Also, Miss Paxton, was haben Sie hier zu suchen?«
In Emilys Kopf überschlugen sich die Antworten. Sie wollte von einer Warnung berichten, die ihr Vater angeblich bekommen hätte, vom Hersteller der Kesselanlage, irgendein Problem mit den Ventilen. Aber als sie in das Gesicht des Ingenieurs blickte, der sich gerade selbstgefällig über den gewichsten Zwirbelbart strich, merkte sie, wie schlecht ihr Plan war. Eine Überprüfung der Anlage würde lange dauern,
viel
zu lange womöglich …
Plötzlich hatte sie eine bessere Idee.
»Ich komme im Auftrag meines Vater«, sagte sie. »Er bittet Sie zu sich – jetzt gleich.«
»Mr. Paxton will mich sehen?« Mr. Bird hob geschmeichelt die Brauen. »Wozu?«
»Er möchte sich bei Ihnen bedanken, für die hervorragende Arbeit, die Sie leisten. Ich glaube, es ist eine Auszeichnung für Sie vorgesehen.«
»Oh, das ist aber eine Überraschung. Um ehrlich zu sein, ich bin darauf gar nicht vorbereitet. Vielleicht sollte ich mich rasch umziehen?«
»Nein, nein«, erwiderte Emily schnell, »das ist nicht nötig. Außerdem, mein Vater bittet Sie nicht allein zu sich. Er möchte Sie mit allen Ihren Männern sehen. Mit sämtlichen Heizern.«
»Wie stellen Sie sich das vor?« Das geschmeichelte Lächeln in Mr. Birds Gesicht wich einem irritierten Ausdruck. »Ich … ich kann die Kessel doch nicht ohne die Heizer zurücklassen. Es würde keine Stunde dauern, und oben in der Ausstellung stehen die Maschinen still.«
»Keine Angst, wir sind in ein paar Minuten wieder zurück.«
Der Ingenieur schaute sie an, hin und her gerissen zwischen Eitelkeit und Skepsis. »Ich weiß nicht, Miss Paxton, Sie kommen einfach hier her und verlangen Dinge von mir – schließlich trage ich die Verantwortung. Wenn etwas schief geht, komme ich in Teufels Küche.«
Emily trat ganz dicht an ihn heran, und leise raunte sie ihm zu: »Eigentlich darf ich es Ihnen nicht sagen, aber es handelt sich um einen Wunsch der Königin. Sie will die Männer sprechen, die hier so aufopferungsvoll dafür sorgen, dass alles so fabelhaft …«
»Was?«, fragte Mr. Bird. »Die Königin?«
»Ja, aber beeilen Sie sich! Ihre Majestät ist schon im Aufbruch, sie kann den Pavillon jeden Moment verlassen.«
18
»Was machst du da die ganze Zeit am Manometer?«, rief Paddy McIntire.
»Den Druck kontrollieren«, erwiderte Victor. »Oder willst du, dass uns der Kessel um die Ohren fliegt?«
»Nee, besten Dank, ich bin heute Abend mit ’nem hübschen Mädchen verabredet. Aber wenn was nicht in Ordnung ist, musst du dem Ingenieur Bescheid sagen.«
»Keine Angst«, sagte Robert, der an Paddys Seite den Ofen befeuerte. »Victor macht das schon.« Und mit einem Grinsen fügte er hinzu: »Ich glaube, der weiß fast besser Bescheid als Birdie.«
Victor setzte das Glas wieder auf das Manometer, das oben auf dem Dom des schwarzen, mannshohen Eisenzylinders montiert war, und kletterte von der Leiter. Die Dampfspannung war in der letzten Stunde so stark gestiegen, dass er den Zeiger hatte arretieren müssen, damit Paddy und die Heizer am zweiten Kessel nicht merkten, was hier vor sich ging. Während er den Luftzug der Feuerung regulierte, blickte er unauffällig in die rußverschmierten Gesichter der Männer. Zum Glück schien keiner Verdacht zu schöpfen.
»Jetzt komm endlich«, rief Paddy. »Ich habe keine Lust, mit Robert allein zu schuften.«
Victor nahm seine Schaufel und machte sich wieder an die Arbeit. Obwohl er wusste, dass er die nächste Stunde nicht überleben würde, war er vollkommen ruhig. Seit er seinen Entschluss gefasst hatte, befand er sich in einem seltsam gelösten, angstfreien Zustand,
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