Die Rebellin
der Ankunft der Queen, und am Portal des Transepts strömten die Menschenmassen wie eine Woge zusammen. Doch Emily kümmerte sich keine Sekunde um die Königin und deren Gefolge. Wo sollte sie Victor finden? Sie wusste nur, dass er irgendwo im Untergrund des Gebäudes sein musste.
In dem gläsernen Pavillon herrschte ein solches Gedränge, dass sie kaum einen Schritt vor den anderen setzen konnte. Zum letzten Mal hatte die Ausstellung ihre Pforten geöffnet, und aus allen Teilen des Landes waren noch einmal die Besucher gekommen, um das Schauspiel zu erleben, sodass sogar dieser riesige Bau zu klein geraten schien, um den Ansturm der Massen aufzunehmen, die endgültig selbst zur Hauptattraktion der Veranstaltung geworden waren. Arbeiterund Handwerkervereine, Belegschaften von Manufakturen und Fabriken, ganze Dörfer und Pfarrgemeinden mit ihren Magistraten und Priestern an der Spitze verstopften die Gänge zwischen den Ständen. Und überall Kinder, wohin Emily schaute, unschuldige und ahnungslose Kinder: Säuglinge, die trotz des Lärms in ihren Wagen schlummerten, Babys auf den Armen ihrer Mütter, Erstklässler an den Händen ihrer Nannies, schlaksige Zehnjährige in Matrosenanzügen, halbwüchsige Jungen im Sonntagsstaat, die Gesichter voller Pickel und die Augen voller Wissbegier, kichernde Backfische mit Schutenhüten und Rüschenkleidern, Schulklassen und Studentenscharen. Emily spürte, wie ihr beim Anblick all dieser jungen Menschen die kalte Angst in den Nacken kroch.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, werden von dem falschen Paradies nur noch Schutt und Asche übrig sein …
Plötzlich, mitten im Gewühl, entdeckte Emily ein vertrautes Gesicht.
»Mr. Plummer!«
»Miss Paxton! Was für eine Freude!« Der kahle Schädel des alten Vorarbeiters steckte unter einer goldbetressten Schirmmütze. »Kann ich Ihnen behilflich sein? Falls Sie Ihre Eltern verloren haben, ich habe Ihren Vater eben erst am Kristallbrunnen gesehen.«
»Nein, nein«, wehrte Emily ab, »ich suche niemanden. Das heißt …« Eine Idee kam ihr in den Sinn, und bevor sie wusste, ob sie sie äußern sollte, sagte sie: »Sie hat der Himmel geschickt, Mr. Plummer. Wissen Sie, wo es zu den Dampfkesseln geht? Eine Anweisung von meinem Vater für den Ingenieur. Nur hat er vergessen, mir zu sagen, wo ich den Mann finde.«
»Keine Sorge«, erwiderte Plummer. »Kommen Sie mit.«
Während er sie durch das Gewühl führte, wurde Emily fast verrückt. Immer wieder gingen ihr die Worte aus Victors Brief durch den Kopf, während sich links und rechts von ihr lachende Menschen drängten. Wer weiß, was ein paar Fuß unter ihnen vor sich ging? Vielleicht drehte Victor schon die Ventile zu … Emily sah im Geiste ein riesiges Manometer, dessen Zeiger immer weiter in einen rot markierten Bereich vorrückte. Sie wusste ungefähr, wie die Kesselanlage funktionierte, Victor und sie hatten die Pläne zusammen studiert. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Jede Sekunde, die verging, brachte sie der Katastrophe näher … Doch Harry Plummer blieb alle paar Schritte stehen, um sich den Hals nach der Königin zu verrenken, und redete in einem fort von Emilys Vater.
»Ich bin ihm ja so dankbar, dass er mich als Ordner angestellt hat. Als wir mit dem Bau fertig waren, habe ich gedacht, so, das war’s. Aber Ihr Vater denkt an seine Leute, er hat noch nie jemanden vergessen. So ein großer Mann! Ohne ihn wäre das hier ja alles gar nicht möglich gewesen. Ich glaube, England wird erst in hundert Jahren so richtig begreifen, was er vollbracht hat. Aber schauen Sie – da drüben! Was ist denn da los?«
Emily blickte in die Richtung, in die Plummer zeigte.
»Um Gottes willen!«
Wie ein Meer, über das ein Sturm hinwegfegt, wogte am Ende der Halle die Menschenmenge auf, ein panisches Geschiebe und Gedränge, eine riesige Welle, die alles und jeden erfasste. Eine haushohe Regalwand mit Porzellan fiel um, eine Alarmglocke ertönte, und überall gellten entsetzte Schreie.
»Hilfe!«
»Der Boden stürzt ein!«
»Rette sich, wer kann!«
16
War das die Strafe für Henry Coles Verfehlung?
Königin Victoria, die an der Seite von Prinz Albert soeben auf dem indischen Thron Platz genommen hatte, um Huldigungen von Würdenträgern und ausgesuchten Gästen entgegenzunehmen, plauderte gerade mit Mary Callinack, einer alten, über neunzigjährigen Frau, die Hunderte von Meilen zu Fuß von Edinburgh nach London gelaufen war, um die Weltausstellung zu sehen, als der Tumult
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