Die Rebellin
mit dem Stiel den Backstein von dem Ventil. Wie eine Flamme stieß der Dampf daraus hervor, und ein Pfiff ertönte, als führe eine Lokomotive vorbei.
»Das nützt gar nichts!«, rief Victor und begann wieder an dem Rad zu drehen.
»Um alles in der Welt!«, schrie sie. »Hör endlich auf! Bitte!« Sie stürzte sich auf ihn, aber er schüttelte sie ab wie ein Kind.
»Aufhören?«, fragte er, ohne die Hände von dem Rad zu lassen.
»Warum? Du hast es doch selbst gewollt!«
Wieder begegneten sich ihre Blicke. Emilys Herz zog sich zusammen: Victor sah plötzlich aus wie ihr Vater, wenn dieser etwas beschlossen hatte und nichts auf der Welt ihn davon abbringen konnte, seinen Entschluss durchzuführen.
»Wenn du das tust, bist du genauso wie er«, sagte Emily.
»Halt den Mund!«
»Genauso wie dein Vater.«
»Du sollst den Mund halten!«
»Wie dein Vater Joseph Paxton, der Toby umgebracht hat …«
Endlich ließ Victor die Hände von dem Rad. »Was hat Toby damit zu tun?«, fragte er.
»Das weißt du ganz genau! Wenn du nicht aufhörst, bringst du Toby noch einmal um!«
Abwechselnd schaute sie auf Victor und das Manometer. Der Zeiger stand jetzt am Anschlag. Jede Sekunde konnte der Kessel explodieren.
»Was … was sagst du da?«
Victor ließ die Arme sinken, wie ein Boxer, der einen Kampf verloren gibt. Emily konnte es kaum glauben. Hatte sie es tatsächlich geschafft, den Flaschengeist zu besiegen? Oder hatte sie ihn nur für einen Moment irritiert?
Vorsichtig machte sie einen Schritt auf ihn zu.
»Komm, Victor, bitte«, sagte sie und streckte die Hand nach ihm aus. »Wir haben kein Recht, so was zu tun, egal, was passiert ist. Sollen denn andere dafür büßen, was er uns angetan hat? Du kannst dir nicht vorstellen, was wir anrichten würden … Nein, Victor, das dürfen wir nicht …« Sie war jetzt so nah bei ihm, dass sie ihn fast berührte. »Mach den Schieber wieder auf, Victor … Bitte, ich flehe dich an … Tu es für uns … für Toby …«
20
»Die Königin wünscht mich zu sehen. Mich und meine Männer.«
»Die Königin? Wer hat
das
denn gesagt?«
»Miss Paxton!«
»Wie bitte?«
»Jawohl. Sie hat mich persönlich aufgesucht, um mir den Wunsch Ihrer Majestät zu überbringen.«
»Aber das ist doch völliger Unsinn. Wie sollte jemand auf eine so verrückte Idee kommen?«
»Ich muss Sie sehr bitten, Sir. Wenn Sie mich fragen, ich finde, das ist eine sehr noble Geste.«
Ratlos blickte Henry Cole in das beleidigte Gesicht des Ingenieurs, der wie aus dem Nichts im Transept aufgetaucht war, zusammen mit einem Dutzend verdreckter Arbeiter, und nun steif und fest behauptete, die Königin habe ihn gerufen. Ob Paxton vielleicht wusste, was es mit der Sache auf sich hatte? Weit konnte er nicht sein, in ein paar Minuten sollte er zum Ritter geschlagen werden. Cole stellte sich auf die Zehenspitzen, um in dem Gewühl nach ihm zu schauen. Paxton stand in der Nähe des Thrones, an derselben Stelle, wo Cole ihn kurz zuvor verlassen hatte. Doch dummerweise redete er immer noch mit Marian, der er nun schon seit einer Ewigkeit mit übertriebener Herzlichkeit zu ihrer Vorstellung bei der Königin gratulierte. Cole drehte sich wieder um. Solange Marian bei Paxton war, konnte er ihn unmöglich auf Emily ansprechen.
Er wandte sich an den Ordner, der den Ingenieur hergeführt hatte. Zum Glück kannte er den Mann. »Haben Sie Miss Paxton ebenfalls gesehen, Mr. Plummer?«
»Ja, Sir. Allerdings, Sir.«
»Und haben Sie gehört, was sie gesagt hat?«
»Um ehrlich zu sein, ich habe mich auch gewundert, als sie michnach den Dampfkesseln fragte.« Plummer lüftete die Mütze und rieb sich seinen grauen Schädel. »Aber es war genau so, wie Mr. Bird sagt. Mein Ehrenwort.«
»Und wo ist Miss Paxton jetzt?«
Plummer schaute den Ingenieur Hilfe suchend an. Der zuckte nur mit den Schultern. »Wenn sie nicht hier oben ist, dann wird sie wohl noch unten sein.«
Cole hatte immer stärker das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte, und die Tatsache, dass er nicht wusste, was es war, vermehrte seine Unruhe nur noch mehr. Während er überlegte, was das alles zu bedeuten hatte, sprach ihn jemand von der Seite an.
»Wen haben wir denn hier, Mr. Cole?«
Prinz Albert stand neben ihm und musterte mit gerunzelter Stirn die Heizer in ihren dreckigen Anzügen. Cole fühlte sich wie auf Kohlen. Wie in aller Welt sollte er diese Versammlung erklären? Da ihm nichts Besseres einfiel, nahm er Zuflucht zur Wahrheit.
»Darf ich
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