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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Einen Monat? Ein Vierteljahr? Sie öffnete ihre Handtasche, um in ihre Börse zu schauen.
    Da sah sie einen Brief.
    »Und wann sticht die
Discovery
in See?«
    »Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, schon ziemlich bald.«
    Emily nahm den Brief aus der Tasche und schaute auf den Umschlag. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn eingesteckt zu haben. Doch als sie das Kuvert öffnete und den geschmacklosen Briefkopf sah, fiel es ihr wieder ein. Ihre Mutter hatte ihr den Umschlag gegeben, nach ihrem letzten Streit, zusammen mit einer alten Ausgabe des
Northern Star
, auf dessen Titelbild von Eus-ton Station Victor zu erkennen war – Beweisstücke, dass sie über alles Bescheid wusste.
    »Übrigens, ihr Lieben, heute ist unser letzter Tag in London. Wir sollten uns langsam fertig machen.«
    »Ja, du hast Recht. Was steht auf dem Programm?«
    Emily hörte kaum noch die Worte, die am Nebentisch gesprochen wurden, während sie den Brief las. Er stammte von Mr. Ernest Jones, dem Herausgeber des
Northern Star
. Darin forderte er sie auf, wieder Illustrationen für seine Zeitung zu liefern …
    War das ein Wink des Himmels? Der Brief in ihrer Hand erschien Emily wie ein Orakel. Zweimal war sie anderen Menschen auf Wegen gefolgt, die nicht ihre eigenen waren, und beide Male war sie nur um ein Haar einer Katastrophe entkommen. War dies die Chance, endlich ihren eigenen Weg zu finden?
    Plötzlich wusste Emily, was sie zu tun hatte. Ohne eine Sekunde länger nachzudenken, steckte sie den Brief wieder in die Tasche und eilte aus dem Frühstückssaal hinaus zur Rezeption, wo der Portier eine Zeitung las.
    »Die Rechnung, bitte.«
    »Die Rechnung?« Der Portier legte die Zeitung verwundert beiseite. »Ich dachte, Sie wollten für länger bei uns bleiben.«
    »Ich muss dringend nach Manchester«, sagte Emily. »Wissen Sie zufällig, wann der nächste Zug dorthin geht?«

26
     
    Seit einer Stunde redete Sarah Paxton auf ihre Tochter ein, um sie vor neuem Unglück zu bewahren. Doch Emily hörte nicht auf, ihre Kleiderkiste zu packen.
    »Willst du es dir nicht noch einmal überlegen? So eine Reise ist lebensgefährlich! Erst recht für eine Frau!«
    »Ach, Mama, wie oft soll ich es dir denn noch sagen? Ich habe mir alles gründlich überlegt, gründlicher als je zuvor etwas in meinem Leben. Mein Entschluss steht fest.«
    »Dein Vater wird das nie und nimmer erlauben.«
    »Ja und? Er kann mir nichts mehr verbieten. Ich spreche nicht mehr mit ihm. – Reichst du mir bitte den Wäschestapel?«
    Mit einem Seufzer nahm Sarah die gefalteten Leibchen von Emilys Bett und legte sie in die Kleiderkiste. Noch am selben Abend, nachdem der Kristallpalast seine Pforten für immer geschlossenhatte, war sie nach Chatsworth gefahren, um da zu sein für den Fall, dass Emily hier auftauchen würde, während ihr Mann in London nach ihr suchte. Und dann war Emily tatsächlich gekommen. Wie glücklich hatte Sarah sie in die Arme geschlossen, voller Hoffnung, in der Zweisamkeit mit ihr, hier, in ihrem alten Heim, endlich die Nähe und Liebe ihrer Tochter zu gewinnen, die sie so viele Jahre vermisst hatte. Doch gleich nach der Ankunft hatte Emily ihr eröffnet, dass sie nur gekommen war, um ihre Koffer zu packen. Sie wollte eine Forschungsexpedition nach Südamerika begleiten, als Zeichnerin im Auftrag des
Northern Star
, um die Entdeckungen der Wissenschaftler im Bild festzuhalten – sie hatte den Vertrag aus Manchester mitgebracht, unterschieben von Ernest Jones, dem Herausgeber der Zeitung. Mindestens ein Jahr würde die Reise dauern. Georgey hatte bei der Nachricht laut gejubelt und seine Schwester angebettelt, ihm einen lebenden Affen mitzubringen. Ihren Kakadu hatte sie ihm schon geschenkt.
    »Hat dieser Toby etwas mit deinem Entschluss zu tun?«, fragte Sarah.
    »Toby?« Emily hielt einen Augenblick inne. »Wie kommst du darauf?«
    »Wer immer das ist – er scheint dir sehr wichtig zu sein. Sein Name war das einzige Wort, das du mit deinem Vater noch gewechselt hast.«
    »Ach, Mama«, sagte Emily nur. In ihren Augen standen Tränen. »Willst du nicht mit mir darüber sprechen?«, fragte Sarah.
    Doch Emily schwieg, und an der Art, wie sie sich wieder dem Kleiderschrank zuwandte, um damit fortzufahren, ihre Kiste zu packen, erkannte Sarah, dass auch weitere Fragen sie nicht zum Reden bewegen würden. Dieses Schweigen war schmerzlicher als jede Antwort. Seit Emilys Kindheit, seit ihre Tochter die ersten Worte sprechen konnte, hatte Sarah darunter gelitten,

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