Die Rebellin
frei.«
25
Emily wünschte, sie könnte ihre Ohren zuklappen wie ihre Augen, um nichts hören zu müssen von dem Gespräch, das die Hotelgäste am Nachbartisch führten, zwei Ehepaare aus Glasgow, die bereits zum Frühstück Krabben aßen. Sie waren als Touristen nach London gekommen und hatten am letzten Tag der Weltausstellung zusammen den Kristallpalast besucht. Während sie nun mit schottischen Trinksprüchen und französischem Weißwein auf ihre Erlebnisse anstießen, sprachen sie so laut, dass Emily jedes Wort mitbekam.
»Als plötzlich diese Panik ausbrach, habe ich wirklich geglaubt, mein letztes Stündlein hat geschlagen. Und dann der alte Wellington – einfach großartig!«
»Wer hat eigentlich die Hymne angestimmt? Ich habe gar keinen Dirigenten gesehen.«
»Ich glaube, das war spontane Begeisterung. Mir sind richtige Schauer den Rücken runtergelaufen.«
Emily hatte die Nacht im
Seven Swords
verbracht, dem einzigen Hotel in der City, in dem noch ein Zimmer für sie frei gewesen war. Ihre Eltern hatten keine Ahnung, wo sie steckte. Nachdem sie von ihrem Vater erfahren hatte, dass Victor in Sicherheit war, hatte sie heimlich das Haus verlassen und war mit einer Droschke in die Catfish Row gefahren, um das Geld zu holen, das Victor und sie dort in einem Kästchen unter dem Waschtisch aufbewahrt hatten. Mrs. Bigelow hatte ihr angeboten, die Nacht in der Kammer zu verbringen, aber dort hätte sie kein Auge zugetan. Die Vorstellung, ohne Victor in dem Raum zu übernachten, in dem sie wie Mann und Frau zusammengelebt hatten, war ihr genauso unerträglich gewesen wie der Gedanke, nach Chats-worth zurückzukehren. Nein, es gab keinen Ort mehr auf der Welt, wohin sie gehörte.
»Davon wird man in hundert Jahren noch reden.«
»Und wir können behaupten, wir waren dabei!«
»Leben wir nicht in einer wunderbaren Zeit?
Cheers
!«
Am Nebentisch klirrten die Gläser. Seit Minuten schon hielt Emily ein Hörnchen in der Hand, ohne einen Bissen davon abzubeißen. Was sollte sie jetzt tun? Junge Männer in ihrem Alter hatten etwas gelernt, wovon sie zur Not leben konnten, sogar die hirnlosen Idioten, die ihre Mutter früher für sie angeschleppt hatte. Aber sie war eine Frau, sie hatte weder studiert noch Erfahrung in irgendeinem Beruf gesammelt. Nicht einmal in die Weberei konnte sie zurück, ihre Mutter war ja schon in der Fabrik gewesen und würde dort mit Sicherheit als Erstes nach ihr suchen. Sollte sie nach Amerika fahren? Allein? Das Ticket für die Überfahrt hatte sie mit aus dem Kästchen genommen. Doch würde sie in Amerika nicht immerzu an Victor denken? Sie wusste es nicht. Vielleicht würde der Schmerz irgendwann vergehen, vielleicht auch nicht … Sie wusste nur, es war zu früh für eine so große und wichtige Entscheidung, die ihr ganzes zukünftiges Leben betraf. Bis sie eine solche Entscheidung wirklich treffen konnte, wollte sie versuchen, Arbeit in London zu finden. Und ein paar Monate konnte sie vielleicht auch von dem Geld leben, das sie für das Ticket nach Amerika bekam, falls die Reederei es zurücknahm.
»Habt ihr schon gehört? Robert Fitzroy rüstet eine neue Expedition aus.«
»Tatsächlich? Wieder mit seiner alten
Beagle?«
»Nein, er hat ein neues Schiff. Es heißt
Discovery.«
»Und wohin soll diesmal die Reise gehen?«
»Soweit ich weiß, nach Südamerika.«
Emily blickte hinüber zum Nachbartisch. Die Touristen aus Glasgow hatten inzwischen ihr Krabbenfrühstück beendet und wuschen ihre Finger in Zitronenwasser. Die Weltausstellung, von der sie vor fünf Minuten noch so geschwärmt hatten, war schon wieder vergessen. Es gab eine neue Sensation, die offenbar die alte in den Schatten stellte.
»Wird Mr. Darwin auch wieder mit an Bord sein?«
»Keine Ahnung, ich kann es nur hoffen. Ich habe seine
Reise um die Welt
förmlich verschlungen.«
Die Erwähnung des Buches, das seit Jahren ihr Lieblingsbuch war, erfüllte Emily mit einem seltsamen Gefühl. Wie beneidete sie die Forscher, die einfach auf ein Schiff steigen und ihr Leben hinter sich lassen konnten, um neue Welten zu erkunden. Für sie selbst, so schien es, gab es nur noch das Hotel, in dem sie Unterschlupf gefunden hatte. Das Hotel war der einzige Ort, wohin sie gehörte, eine Durchgangsstation im Nirgendwo zwischen Ankunft und Aufbruch, für Menschen ohne Heimat oder Zukunft, für Menschen wie sie … Vielleicht würde sie von nun an für immer in einem Hotel wohnen. Doch wie lange würde ihr Geld reichen?
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