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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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einsam sein, allein mit all den Dingen, die er erschaffen hat. Mit seinem Park, mit seinen Glashäusern, mit seinen Seerosen …« Die Gefühle wurden plötzlich so stark, dass sie sich aus Emilys Umarmung befreien musste.
    »Warum stößt du mich zurück?«, fragte Emily.
    »Ich … ich stoße dich nicht zurück«, erwiderte Sarah und versuchte, ihre Fassung wieder zu gewinnen. »Aber du weißt doch, ich hasse Sentimentalitäten.«
    »Sentimentalitäten?« Emily blickte sie verständnislos an.
    »Nenn es, wie du willst«, seufzte Sarah, »ich bin jedenfalls zu alt, um damit anzufangen.«
    Emily wartete noch eine Sekunde. Doch als Sarah sich über die Augen fuhr, um ihre Tränen fortzuwischen, und einen Knopf am Ärmel ihrer Bluse schloss, der sich während ihrer Umarmung geöffnet hatte, nahm Emily den Stapel Pullover vom Bett und legte ihn in die Kleiderkiste.

27
     
    Emily stand auf der Galerie des Kristallpalasts und blickte in das gähnend leere Kuppelrund hinab, um Abschied von dem Ort zu nehmen, der ihr Leben mehr als jeder andere Ort der Welt verändert hatte. Wie der Kadaver eines gestrandeten Walfischesstreckte sich der gläserne Leib vor ihr aus, als hätte er für immer seine Seele ausgehaucht. Das große Fest war vorbei, die Ausstellungsstücke waren in Kisten verpackt und befanden sich auf dem Weg zurück in ihre Heimatländer, und wo sich vor nicht langer Zeit noch hunderttausend Menschen gedrängt hatten, herrschte nun wortlose Stille. In wenigen Wochen würde man beginnen, den Pavillon abzutragen und in seine Einzelteile zu zerlegen, um ihn an anderer Stelle, auf einem Hügel in Sydenham, zu seiner weiteren Verwendung wieder neu zu errichten, als öffentliche Vergnügungsstätte für das Volk.
    Emily trat an die Brüstung. Unweit des fünf Mann hohen Kristallbrunnens stand noch das scharlachrot bespannte Podium mit dem Elfenbeinthron, auf dem die Organisatoren der Weltausstellung geehrt worden waren. Sie alle hatten ihre Ziele erreicht. Mehr als sechs Millionen Menschen hatten die Veranstaltung besucht, in der vierzehntausend Aussteller aus fünfundzwanzig Ländern ihre Exponate gezeigt hatten. Prinz Albert hatte die Bewunderung der Königin und die Liebe des Volkes errungen, sodass seine Stellung für immer gefestigt schien. Joseph Paxton war nicht nur zum Ritter geschlagen und für das Parlament nominiert worden – dank seiner Aktienmehrheit an der Midland-Eisenbahngesellschaft war er einer der reichsten Männer des Landes, reicher noch als sein langjähriger Förderer, der Herzog von Devonshire. Und auch Henry Cole war nun ein allseits anerkannter Mann, Träger des Bath-Ordens und von der Society of Arts beauftragt, mit dem Gewinn der Ausstellung von über einhundertsechsundachtzigtausend Pfund Sterling ein Museum einzurichten, das den Namen der Königin und ihres Prinzgemahls tragen sollte, um beider Verdienste um das Wohl der Nation für immer im Bewusstsein des Volkes wach zu halten.
    Emily ließ ein letztes Mal den Blick durch die Kuppel schweifen. Von hier aus hatte sie die Flugblätter in das Transept hinabwerfen wollen, um die Welt aufzuklären über das wahre Wesen der Ausstellung, das sie als Paradies auf Erden feierten … Hierhätten Victor und sie, verblendet von der Gewissheit, als Einzige die Wahrheit zu kennen, um ein Haar ein Inferno angerichtet, das Hunderten oder Tausenden von Menschen das Leben gekostet hätte … Wieder sah sie Victors Gesicht vor sich, die Begeisterung, die aus seinen Augen leuchtete, als sie den Text des Flugblatts verfassten, und die Verzweiflung, die aus ihnen sprach, als er sich in die Luft sprengen wollte, um seinem Schicksal für immer zu entrinnen. Wo mochte er jetzt sein? Emily hatte keine Ahnung, sie wollte es auch gar nicht wissen. Um nicht die Versuchung in sich zu nähren, ihn noch einmal wieder zu sehen.
    Auf der Galerie näherten sich Schritte, langsam und schwer hallten sie in der Kuppel wider.
    »Ich hatte gewusst, dass du noch einmal herkommen würdest.« Emily drehte sich um. Vor ihr stand ihr Vater.
    »Wolltest du wirklich aufbrechen, ohne dich von mir zu verabschieden?«
    »Wir haben nichts mehr miteinander zu reden«, erwiderte Emily.
    »Doch, das haben wir. Und deshalb bin ich jeden Tag hier gewesen, um auf dich zu warten.« Er öffnete sein Zigarettenetui und hielt es ihr hin, doch sie schüttelte den Kopf.
    »Was willst du von mir?«
    »Ich möchte, dass du weißt, dass es mir unendlich Leid tut. Wir haben dein Vertrauen missbraucht.

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