Die Rebellin
dass sie immer so viel stärker an ihrem Vater hing als an ihr.
Ihn
hatte sie sich zum Vorbild genommen,
er
war ihr Abgott, ihr Idol,dem sie mit all ihren Talenten nacheiferte. Doch nie hatte sie sich für die Dinge interessiert, die Sarah interessierten, nur widerwillig hatte sie hin und wieder ein paar Minuten mit ihr verbracht. Und nicht einmal jetzt, da sie mit ihrem Vater für immer gebrochen hatte, wollte sie bei ihr bleiben. Lieber zog sie in den Urwald, als mit ihrer Mutter zusammen zu sein.
Emily drehte sich um und schaute sie an.
»Seit wann hast du es eigentlich gewusst?«
»Was gewusst, mein Kind?«
»Dass er Victors Vater ist.«
Sarah wich ihrem Blick aus. Emilys Frage war so einfach, doch die Antwort darauf fiel ihr unendlich schwer.
»Was heißt schon ›gewusst‹ in einer Ehe?«, sagte sie schließlich. »Man lebt Tag für Tag mit einem Menschen zusammen, man glaubt ihn zu kennen wie sich selbst, und dann stellt man fest, dass man die ganze Zeit mit jemandem verbracht hat, der einem so fremd ist, als hätte man nie ein Wort miteinander gewechselt.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Mama. Ich will wissen, seit wann du es wusstest.«
Sarah hob die Augen und schaute ihrer Tochter ins Gesicht. »Von Anfang an«, sagte sie leise. »Schon am ersten Tag hat er mich mit dieser Person betrogen, gleich nach seiner Ankunft. Ich hatte ihm ein Frühstück gemacht, im Schloss schliefen noch alle. Er war so schüchtern und unsicher, er wusste nicht, ob er das Rührei, das ich ihm vorsetzte, mit Messer und Gabel oder mit einem Löffel essen sollte. Doch kaum war er mit dem Frühstück fertig, sah ich durch das Fenster, wie er draußen im Hof mit dieser Frau sprach, einer jungen Wäscherin. Er redete und lachte mit ihr und berührte immer wieder ihr Gesicht. Kurze Zeit später, wir waren eben erst verheiratet, war sie schwanger und brachte Victor zur Welt.«
Ein Schweigen entstand. Emily nahm einen Stapel Pullover von der Kommode, doch statt sie in die Kleiderkiste zu legen, standsie unschlüssig da, als könne sie nicht entscheiden, was sie damit tun sollte.
»Wenn du es von Anfang an gewusst hast«, fragte sie, »warum bist du dann bei ihm geblieben?«
»Ich habe diesen Mann geliebt«, erwiderte Sarah, ohne eine Sekunde zu zögern, »und ich werde es immer tun, solange ich lebe. Selbst jetzt, nachdem er mich so viele Jahre betrogen und gedemütigt hat, kann ich nicht damit aufhören. Ich wollte immer nur an seiner Seite sein, das war alles, was ich mir in meinem Leben wünschte, zusammen mit ihm die großen Dinge erleben, von denen ich wusste, dass er zu ihnen fähig war. Dafür war ich bereit, jeden Preis zu bezahlen.«
Emily schüttelte den Kopf. »Ich … ich hatte immer geglaubt, ihr zwei wäret ein vollkommenes Paar. So oft hat er dich vor allen Leuten gelobt und gesagt, dass er ohne dich nie die Dinge geschafft hätte, die er vollbracht hat. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich darum beneidet habe.«
Sarah nickte. »Ja, das ist wahr, unsere Ehe hatte viele gute Seiten, und vielleicht waren wir sogar ein vollkommenes Paar, soweit das zwischen zwei Menschen überhaupt möglich ist. Aber wenn wir das waren, dann nur, weil ich die ganze Zeit zu allem schwieg. Dein Vater ist so stark – eine jammernde Frau hätte er an seiner Seite nie geduldet.« Sie machte eine Pause, um nicht vor ihrer Tochter zu weinen. »Zwanzig Jahre habe ich versucht, diese Verletzung zu ignorieren. Doch jetzt … jetzt kann ich es nicht mehr.«
Emily legte den Stapel Pullover aufs Bett und nahm ihre Mutter in den Arm. »Ich wollte, du hättest mir das viel früher schon gesagt. Ich glaube, es wäre alles ganz anders gekommen.« Sie streichelte ihre Schulter, ihr Haar, zögernd und unsicher, doch gleichzeitig so liebevoll, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr getan hatte. »Was wirst du jetzt tun, Mama?«
»Gar nichts«, erwiderte Sarah und schmiegte sich dankbar an ihre Tochter. »Dein Vater wird in London bleiben – soweit ich weiß,will man ihn zum Abgeordneten machen –, und ich werde wohl den Rest meines Lebens hier in Chatsworth verbringen. Niemand wird etwas merken, und wenn gesellschaftliche Anlässe meine Anwesenheit erfordern, werde ich meine Pflichten erfüllen.«
»Glaubst du, du wirst das ertragen?«, fragte Emily.
»Was soll ich sonst tun?«, seufzte Sarah. »Solange deine Geschwister noch im Haus sind, wird es gehen. Aber dann, wenn auch sie mich verlassen, werde ich hier furchtbar
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