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Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
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Wagen.«

24
     
    Sanft schien das Licht des Mondes durch das kleine, quadratische Zellenfenster. Victor lag auf der Pritsche, die Hände im Nacken verschränkt, und blickte gegen die weiß gekalkte Wand, auf der sich in schwarzen, scharfen Schatten die Stäbe des Gitters abzeichneten. »Los, sag schon«, rief jemand aus der Nachbarzelle, »was hast du ausgefressen?«
    »Die Mühe kannst du dir sparen«, antwortete ein anderer. »Der sagt nichts.«
    »Muss ein feiner Pinkel sein. Hat die ganze Zelle für sich allein.«
    »Das hätte ich auch gern. Braucht nur seine eigene Scheiße zu riechen.«
    Victor hörte nicht auf die Rufe der Gefangenen, die in den übrigen Zellen der Polizeiwache untergebracht waren. Seit Stunden lag er schon da und wartete. Man hatte ihn noch nicht verhört, nur irgendwann hatte ein Wärter ihm einen Napf Brei in die Zelle gestellt, zusammen mit einem Becher Wasser. Er hatte beides nicht angerührt.
    Was würde jetzt mit ihm geschehen? Wenn sie ihn nicht auf der Wache verhörten, würden sie ihn wahrscheinlich gleich in ein Gefängnis überführen. So hatten sie es auch damals gemacht, nach dem Streik in der Ziegelfabrik. Victor sah das fromme Gesicht von Direktor Mayhew vor sich, die lauernden wässrigen Augen, die Warze auf seiner rosigen Wange, hörte die Trillerpfeife, die morgens die Gefangenen weckte, die Stimme von Oberaufseher Walker, wenn er sie antreten ließ, das Dröhnen der genagelten Stiefel auf den Gängen, wenn sie zur Arbeit in der Tretmühle ihre Zellen verließen, das Knarren des Mahlwerks, in dem sie im ewigen Schweigen ihre Fron verrichteten … Doch wahrscheinlich würden sie ihn gar nicht ins Cold-bath-Fields-Gefängnis bringen, sondern gleich nach Newgate, in die Nähe von Old Bailey, wo die meisten der zum Tod Verurteilten auf ihre Hinrichtung warteten. Victor fürchtete sich nicht, er bedauerte nur, dass sie ihm bei seiner Verhaftung den Gürtel und das Taschenmesser abgenommen hatten. Damit er ihnen nicht zuvorkommen konnte.
    Schlüssel rasselten, und zwei Männer in Zivilkleidung, die Victor noch nicht gesehen hatte, betraten die Zelle. Der eine hatte ein Gesicht wie ein Bullterrier, der andere wie ein Pinscher. Der Pinscher führte das Wort.
    »Aufstehen!«
    Victor erhob sich von der Pritsche. Der Bullterrier legte ihm Handschellen an, der Pinscher forderte ihn mit dem Kopf auf, die Zelle zu verlassen.
    »Mitkommen!«
    »Wohin?«
    »Das wirst du schon sehen.«
    Die beiden führten ihn in einen Hof, wo ein vergitterter Gefangenenwagen wartete.
    »Einsteigen!«
    Victor war allein in dem bedeckten Fuhrwerk, in dem Platz für über zwei Dutzend Insassen war. Kaum hatten sie die Tür hinter ihm verriegelt, zogen die Pferde an. Er blieb am Gitter stehen und schaute hinaus in die nächtliche Stadt, die er wohl nie mehr wiedersehen würde. Nachdem der Wagen den Hof der Polizeiwache verlassen hatte, fuhren sie am Hyde Park vorbei, wo der Kristallpalast wie ein gigantischer Diamant im Mondlicht glitzerte, die Knights Bridge und den Piccadilly Crescent entlang und dann immer weiter auf die City zu. Also brachten sie ihn gleich nach Newgate, ganz wie er vermutet hatte. Doch als sich draußen die Kuppel von Old Bailey vor dem Sternenhimmel erhob, bog der Wagen in Richtung Fluss ab, und durch die Upper Thames Street rollte er auf den Tower zu, dessen finstere Massen er wenige Minuten später passierte, und danach weiter in Richtung der St.-Katharinen-Kais.
    Wohin fuhren sie? Victor kannte kein Gefängnis, das in dieser Gegend lag.
    Im Hafen von Bugsbys Reach kam der Wagen zum Stehen. Der Bullterrier öffnete die Gittertür und Victor stieg aus. Zu beiden Seiten ragten Speichergebäude in die Höhe, die in parallelen Reihen auf den Kai zustrebten. Vom Fluss her wehte eine kühle Brise.
    »Was machen wir hier?«, fragte Victor.
    »Das würde ich auch verdammt gerne wissen!« Als hätte er eine Stinkwut im Bauch, warf der Bullterrier die Wagentür zu.
    Plötzlich ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit.
    »Sie können ihm die Handschellen abnehmen.«
    Ein Mann mit einem hohen Zylinder trat aus einer Speicherein- fahrt hervor. Victor traute seinen Augen nicht. Im Schein der Straßenlaterne erkannte er unter der Hutkrempe ein breites, kräftiges Gesicht, das von mächtigen Bartkoteletten und buschigen Brauen eingerahmt wurde.
    Nein, er hatte sich nicht geirrt. Es war Joseph Paxton.
    Victor spuckte zu Boden.
    »Soll ich ihm die Fresse polieren?«, fragte der Bullterrier.
    »Tun Sie

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