Die Rebellin
einem William Patterson, der ihm laut Auskunft des Kapitäns helfen würde, in der fremden Heimat Fuß zu fassen. Doch wozu? Es würde kein neues Leben für ihn geben, in der neuen Welt so wenig wie in der alten. Sein Schicksal war besiegelt, seit es ihn gab, seit dem verfluchten Augenblick, da Joseph Paxton ihn gezeugt hatte.
Wir beide wissen, dass wir uns nie mehr wiedersehen dürfen, und wenn es uns das Herz zerreißt …
Obwohl er den Brief auswendig kannte, zog er ihn wieder ausder Tasche, um noch einmal die wenigen Zeilen zu lesen. Es war die letzte Möglichkeit, Emily nahe zu sein. Mit den Augen tastete er die Linien ihrer Handschrift ab, die kraftvollen Aufstriche an den Satzanfängen, die weichen Rundungen der Großbuchstaben, die verspielten Schnörkel, mit denen sie die Wörter abschloss. Es war, als könne er sie so noch einmal zum Leben erwecken, ihre Gegenwart heraufbeschwören, ihre Stimme, ihr Gesicht … Regentropfen klatschten auf das Papier und verwischten die Tinte. Wie lange würde der Zauber noch wirken? Schon begannen ihre Gesichtszüge vor seinem inneren Auge zu verschwimmen. Hatte sie wirklich ein Muttermal an der Oberlippe? Oder war es nur eine Sommersprosse? Und selbst wenn es ihm gelänge, ihr Bild für immer in sich zu bewahren – nie würde er wissen, wie sie später aussehen würde, als erwachsene Frau, als Mutter und Großmutter. Mit jedem Monat, mit jedem Jahr würde ihr Aussehen sich mehr und mehr von seinem Bild entfremden.
Er zerriss den Brief und schaute zu, wie die Schnipsel über die grauen Fluten trieben. Ein letzter, stummer Abschied, bevor er den Kontinent für immer verließ.
29
Emily schaute aus dem Fenster ihres Abteils hinaus in die Landschaft, wo in rasender Fahrt die Wiesen und Felder vor ihren Augen verschwammen wie die Farben eines zu nass aufgetragenen Aquarells.
»Ihre Fahrkarte, bitte!«
Sie hatte gar nicht gehört, dass der Schaffner in ihr Abteil gekommen war. Sie griff in ihre Tasche und reichte ihm das Billet.
»Wann kommen wir in Plymouth an?«
Der Schaffner warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »In weniger als einer Stunde«, sagte er und knipste ihren Fahrschein.
»Eine gute Reise.«
Er tippte an den Schirm seiner Mütze, dann verschwand er aus dem Abteil, um sich außen am Zug entlang zum nächsten Wagen zu hangeln. Emily steckte ihr Billet wieder ein. Noch eine Stunde, dann würde sie Victor in ihre Arme schließen. Von ihrem Vater wusste sie, dass die
Fortune
auf der Fahrt durch den Ärmelkanal zweimal angelegt hatte, in Portsmouth und Southampton, um unterwegs Frachtgut und Passagiere an Bord zu nehmen, und dass sie nicht vor Abend in Plymouth den Anker lichten würde. Emily schloss die Augen. Nein, nichts und niemand auf der Welt konnte sie mehr daran hindern, Victors Frau zu werden. Sie spürte seinen Kuss auf ihrem Mund, seinen Atem, seine Lippen und ein Gefühl reiner, tiefer Seligkeit wallte in ihr auf. Gott sei Dank, Victor war nicht ihr Bruder, daran bestand nicht mehr der geringste Zweifel. Ihr Vater hätte ihr sonst nie gesagt, wo sie ihn finden würde. Er hatte sie sogar an den Zug gebracht und das Billet für sie gekauft, damit sie Victor noch einholen konnte, im äußersten Südwesten des Landes, wo der Ärmelkanal sich in den unendlichen Ozean öffnete.
Was für ein Gesicht würde Victor wohl machen? Immer wieder malte Emily sich aus, wie er an der Reling der
Fortune
stand und seine dunklen Augen aufleuchteten, wenn sie plötzlich vor ihm auf dem Kai erschien. Ob er gleich begriff, was ihr Kommen bedeutete? Sie konnten tun und lassen, was sie wollten! Sie konnten zusammen nach Australien fahren. Oder sie konnten versuchen, einen Platz für Victor auf der
Discovery
zu bekommen, die in einer Woche in Bornemouth auslief – ihr Geld reichte aus, um ihn an Bord einzuquartieren. Vielleicht schafften sie es sogar, Kapitän Fitzroy zu überreden, auf dem Schiff eine kleine Druckerei einzurichten, um nach einem Jahr mit einem fertigen Buch von der Expedition nach England zurückzukehren, mit den Abbildungen aller Pflanzen und Tiere, die sie auf ihrer Reiseentdeckten. Was für ein unbeschreibliches Glück würde es sein, mit Victor den Amazonas entlangzufahren, den Fluss, von dem die Seerosen stammten…
»Plymouth! Endstation! Alle Passagiere aussteigen!«
Der Zug stand noch nicht still, als Emily die Wagentür öffnete und aus dem Abteil sprang. Zum Glück war der Bahnhof nur wenige Minuten vom Hafen entfernt. Sie raffte ihren
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