Die Rebellin
den Pfad der Tugend führen.
Als sie den Kiesweg erreichten, nahm er das Gespräch wieder auf.
»Ich kann dir gar nicht genug danken für die Unterstützung, die du mir immer gegeben hast, und ich weiß«, fügte er in ehrlicher Rührung hinzu, »ohne dich hätte ich es im Leben nie so weit gebracht. Aber trotzdem, Sarah, die Zeit bleibt nicht stehen. Die Welt verändert sich, und wir müssen uns mit ihr verändern. Das Leben bietet täglich neue Chancen, wie reife Früchte – wir müssen sie nur ergreifen. Emily kann uns dabei helfen, wenn ich in Zukunft …«
»Papperlapapp«, unterbrach sie ihn. »Aus dir spricht nur väterlicher Egoismus. Du gönnst deinen Liebling keinem anderen Mann. Du wirst sentimental, Joseph! Das ist der einzige Grund, weshalb du Emily nicht aus dem Haus lassen willst.«
»Wie gut du mich doch kennst«, sagte Paxton mit einem Seufzer. »Nie kann ich dir etwas vormachen.« Er blieb stehen und hob ihr Kinn. »Hast du schon jemanden im Auge?«
Sarah schenkte ihm ihr unschuldigstes Lächeln. »Wie kommst du denn darauf, mein Bester?«
10
»Mister Henry Cole!«
Jonathan, der Butler, hatte den Namen kaum ausgesprochen, da betrat der Gast auch schon den Salon: ein kleiner drahtiger Mann mit glatt rasiertem Gesicht, Hut und Stock in der Hand. Während er ablegte und mit Mr. und Mrs. Paxton die üblichen Honneurs austauschte, würdigte Emily ihn kaum eines Blickes. Nur widerwillig ließ sie es über sich ergehen, dass er sich zumKuss über ihre Hand beugte. Als seine Lippen ihre Haut berührten, stellte sie sich für eine Sekunde vor, es wäre Victor.
»Würdest du dich bitte um die Blumen kümmern, Emily?«
Sie nahm den Strauß Rosen, den Cole in der Hand hielt, und reichte ihn Jonathan weiter. Wie hasste sie diese Einladungen heiratswilliger Männer, die ihre Mutter regelmäßig für sie arrangierte! Allein in dieser Saison war es schon die sechste Veranstaltung dieser Art. Jedes Mal gab es Steckrüben zum Hauptgang, das Leibgericht ihres Vaters, und um ihm zu gefallen, stopften Sarahs Schwiegersohnkandidaten das eklige Zeug in sich hinein, als sei es ihnen ein Hochgenuss. Nein, einen solchen Speichellecker würde Emily niemals heiraten! Um keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen zu lassen, hatte sie ihr hässlichstes Kleid angezogen, einen Alptraum aus blauem Kattun und weißen Falten, in dem sie aussah wie ihre eigene Dienstmagd, und sich außerdem eine absurde Frisur aus Zöpfen und Schnecken gesteckt. Nur auf ihre Lieblingsohrringe, zwei Opale im selben Türkiston wie ihre Augen, die ihr Vater ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte, hatte sie nicht verzichtet. Fast bereute sie es schon.
Im Esszimmer war angerichtet.
»Steckrüben?«, fragte Cole mit einem Stirnrunzeln, das Besteck in der Hand. »Wie originell!«
»Ja, mein Leibgericht«, erwiderte Paxton. »Als ich noch jung war und es nichts zu essen gab, waren sie für mich die größte Delikatesse.«
»Ich begreife«, sagte Cole. »Und darum stehen sie heute noch auf dem Speisezettel, damit Ihre Kinder nie vergessen, dass Ihr Wohlstand keine Selbstverständlichkeit ist?«
»Genauso ist es«, bestätigte Paxton, offenbar sehr angetan von seinem Gast.
»Ich bewundere Ihre Pädagogik«, nickte Cole. Doch statt zu essen, legte er Messer und Gabel wieder hin und schob den Teller von sich fort. »Ja, die Pädagogik ist eine wunderbare Sache,nur kann man leider nichts, was von Wert ist, einem anderen Menschen beibringen. Lieber leide ich an einer Magenverstimmung, die ich hiermit zu meiner Entschuldigung offiziell erkläre, als Steckrüben zu essen.«
Emily musste grinsen. So hatte noch niemand mit ihrem Vater gesprochen. Erst jetzt sah sie Cole richtig an. Er hatte ein ausgesprochen sympathisches Gesicht: zwei blitzende Augen, die immer in Bewegung waren, große Nase, kräftiges Kinn, hochragende Stirn, und den fein geschnittenen Mund zierte ein hübscher, akkurat geschnittener Schnauzbart, der manchmal ganz leicht zu zittern schien, während Cole das gekochte Rindfleisch ohne Steckrüben mit sichtlichem Wohlbehagen aß und dabei mit so witzigen Bemerkungen brillierte, dass Emily sich vor Lachen fast verschluckte.
»Mein Kompliment für Ihr Kleid, Miss Paxton«, richtete er plötzlich das Wort an sie. »Daraus spricht der ganze Liebreiz dienender Arbeit. Und erst die Frisur! Ein Wunder der Flechtkunst. Ja, modern ist, was man selber trägt, unmodern, was andere Leute tragen. Doch meinen Sie nicht, dass
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