Die Rebellin
alten Klosterruine, in der vor vielen hundert Jahren ein Einsiedlermönch gelebt hatte, um den Mord an seiner Frau zu büßen. Angeblich erschien die tote Frau seitdem jedem Liebespaar, das sich nachts an den Ort verirrte. Victor und Emily sprangen über den Graben, um auf das Gelände zu gelangen, balancierten über die Mauerreste, und als sie die halb verfallene Kapelle der Ruine betraten, schlugen sie wie Katholiken ein dreifaches Kreuzzeichen, genauso, wie sie es als Kinder schon getan hatten.
»Ich wollte, es wäre jetzt Nacht«, sagte Victor.
»Weshalb?«, fragte Emily, und ihre Stimme hallte von dem verfallenen Gemäuer wider. »Damit uns die tote Frau erscheint? Aber das kann sie doch gar nicht, wir sind doch kein …«
Emily sprach den Satz nicht zu Ende. Victor schluckte. Ihre Augen verrieten, dass sie gerade dasselbe dachte wie er. Ihr Gesicht war so nah, dass er ihren Atem fühlte. Wieder spürte er die Beule zwischen seinen Schenkeln. Herrgott, warum traute er sich nicht, sie zu küssen?
»Wer als Erster im Tal ist, hat gewonnen!«
Ohne seine Antwort abzuwarten, rannte Emily los. So schnell er konnte, folgte er ihr nach, hinaus aus der Kapelle, über den Graben und die Mauern hinweg und dann den Hügel hinab, bis er ganz außer Atem war und vor lauter Tränen in den Augen kaum noch sehen konnte, wohin er lief. Auf halber Strecke überholte er sie, um sie am Ende doch gewinnen zu lassen. Es war alles wie früher. Sogar den alten Jackson sahen sie aus der Ferne – er drohte gerade einer Horde Kinder mit der Mistgabel, als sie an seinem Hof vorüberkamen. Nur um das alte Gewächshaus und den eintrittspflichtigen Teil des Parks mit den Wasserspielen und den gestutzten Bäumen und Hecken, wo es von Touristen wimmelte, machten sie einen Bogen, wie auch um das Cottage am Waldrand, in dem Victor mit seiner Mutter gelebt hatte.
»Bevor ich’s vergesse«, sagte er, als sie am Abend zum Bahnhof zurückkehrten. »Hier – die Druckfahnen.«
Er reichte Emily die Mappe, doch seine Arme waren auf einmal schwer wie Blei. Wenn sie jetzt einander die Hand gaben, würde es vielleicht ein Abschied für immer sein. Das wurde ihm mit solcher Deutlichkeit bewusst, dass ihm fast schlecht davon wurde.
Emily nahm die Mappe und klemmte sie unter den Arm. »Ich kann es kaum erwarten, die Bilder meinem Vater zu zeigen«, sagte sie, und ihre Augen leuchteten vor Freude.
In diesem Augenblick begriff Victor, weshalb er sie in der Kapelle nicht geküsst hatte. Bei allem, was Emily dachte oder sagte oder tat, war ihr Vater im Spiel! Er streckte ihr die Hand entgegen, um Abschied zu nehmen.
»Also dann, Emily, leb wohl.«
Sie schaute auf seine Hand, doch ohne nach ihr zu greifen. »Werden … werden wir uns denn nicht wieder sehen?«, fragte sie zögernd und blickte zu ihm auf. »Ich meine, um die Termine und die Druckauflage zu besprechen?«
Victors Herz fing vor Freude an zu klopfen. »Ger… ger… gerne«, stammelte er, unfähig, ein gescheiteres Wort herauszubringen.
»In zwei Wochen bin ich wieder in London. Ich … ich könnte dir vorher schreiben. Wenn du mir deine Adresse sagst.«
»Schick den Brief einfach an die Werkstatt von Mr. Finch. Die Straße und Hausnummer hast du ja.«
»Also abgemacht?«
»Abgemacht!«
Statt seine Hand zu nehmen, die immer noch wie ein Fragezeichen in der Luft hing, gab Emily ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke«, sagte sie. »Für diesen Tag – und für alles!«
Ein rosa Schleier lag auf ihrem Gesicht, wie ein zartes Abendrot. Victors Knie wurden so weich, dass er Angst hatte, hinzufallen. Und trotzdem war es ein so schönes Gefühl, dass er hoffte, es würde niemals aufhören.
»Bis in zwei Wochen also«, sagte Emily, plötzlich genauso verlegen wie er. Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte so eilig davon, als würde sie irgendwo dringend erwartet.
Als wenig später der Zug einlief, knurrte Victor der Magen. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen, doch er hatte es gar nicht gemerkt.
15
»Praise to the Lord the Almighty, the King of Creation.
O my soul praise him for he is your health and salvation …«
Zusammen mit ihren Eltern und Mr. Henry Cole stand Emily in der ersten Reihe der Gemeindekirche St. Andrew’s und sang den Schlusschoral. Das aufgeschlagene Gebetbuch in der Hand, schaute sie auf den Altar, der im Glanz der Spätsommersonne strahlte, als würde er Feuer sprühen. Doch in ihrem Innern sah es alles anderes als strahlend aus. Seit drei Tagen war
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