Die Rebellin
sie in London, und in weniger als achtundvierzig Stunden sollte sie Victor wiedersehen. Sie hatte ihm aus Chatsworth geschrieben und vorgeschlagen, sich am Dienstag vor dem Dury Lane Theater mit ihm zu treffen. Jetzt wartete sie auf seine Antwort. Doch je näher der Augenblick heranrückte, desto mehr wuchsen ihre Zweifel. Durfte sie wollen, was sie sich wünschte? Einerseits war Victor ihr ältester Freund und sie freute sich so sehr, nach all den Jahren endlich Gelegenheit zu haben, ein wenig von der Schuld abzutragen, die sie ihm gegenüber noch immer empfand; andererseits aber war sie keineswegs sicher, dass dies der einzige Grund war, warum sie so oft an ihn dachte, wenn sie abends in ihrem Bett lag und nicht einschlafen konnte. Fast hoffte sie, Victor würde das Treffen absagen und ihr auf diese Weise die Entscheidung abnehmen.
»… all you who hear, now to his altar draw near, joining in glad adoration.«
Cole sang an Emilys Seite so schief, dass sie die Melodie kaum wiedererkannte. Wie konnte ein Mann von so gutem Geschmack nur so unmusikalisch sein? Der gemeinsame Besuch des Gottesdiensts war eine Auszeichnung für Coles Erfolg bei den Mundays. Sarah Paxton hatte die Idee gehabt, und Emily hatte nicht dagegen protestiert. Cole hatte in Manchester einen entscheidenden Durchbruch auf dem Weg zur Weltausstellung geschafft, und Emilys Vater hatte deshalb das
Magazine
verkauft, so wie sie es ihm selbst geraten hatte, um noch mehr Geld in Aktien der Midland Railway investieren zu können, bevor andere Spekulanten davon Wind bekamen. Sie hatte also Veranlassung genug, Cole dankbar zu sein.
Trotzdem wich Emily seinem Blick aus, als er versuchte, sie anzulächeln. Sie kam sich so verlogen vor, er hatte ja keine Ahnung, was in ihr vorging, während er das Gotteslob neben ihr sang. Oder spürte er ihre Verunsicherung und ließ es sich nur nicht anmerken? Eigentlich gab es keinen Grund mehr, Victor wiederzusehen – die Illustrationen, die sie gezeichnet hatte, würden nach dem Verkauf der Zeitschrift nicht mehr in Druck gehen. War es da nicht ihre Pflicht, ihm das in einem Brief mitzuteilen und auf das Treffen zu verzichten? Nein, das brachte sie nicht übers Herz, er hatte sich so gefreut, als sie ihm am Bahnhof den Vorschlag gemacht hatte. Aber warum verschwieg sie ihren Eltern, was sie vorhatte? Und warum hatte sie behauptet, sie hätte am Teich gezeichnet, als ihre Mutter sie wegen des Picknickkorbs zur Rede gestellt hatte? Und warum hatte sie solche Angst, jemand könnte sie und Victor zusammen in Chatsworth gesehen haben?
Ach, Schuld an ihrer Verwirrung war nur Henry Cole. Wenn er sich endlich erklären würde, wüsste sie, was sie zu tun hätte. Seit Monaten verkehrte er in ihrem Haus, als gehöre er zur Familie, doch sooft er sie auch besuchte, kein Wort kam über seineLippen, das auf ernste Absichten schließen ließ. Emily machte sich keine Illusionen. Was für einen Grund sollte Cole haben, um ihre Hand anzuhalten? Sie war eine gute Partie, sicher, aber alles andere als eine attraktive Frau – nur ein Idiot würde auf die Verkleidungskünste hereinfallen, mit denen ihre Mutter versuchte, ihre fehlenden Reize zu kompensieren.
»Darf ich bitten?«
Emily zögerte, als Cole ihr beim Verlassen des Gotteshauses seinen Arm anbot.
»Sie wissen, Miss Paxton, wie sehr ich das Kleid bewundert habe, das Sie bei unserer ersten Begegnung anhatten. Doch um ganz ehrlich zu sein, es ist nichts im Vergleich zu dem reizenden Arrangement, das Sie heute auf Ihrem Kopf tragen.«
Unwillkürlich fasste Emily sich an den Hut, den sie auf Drängen ihrer Mutter aufgesetzt hatte: ein kunstvolles Geflecht aus Strohgarben und getrockneten Blumen, mit fast so einer breiten Krempe wie die Hüte, die Sarah Paxton trug.
»Gefällt er Ihnen nicht?«, fragte sie.
»Nur aus einem Grund – weil er mich daran hindert, fortwährend in Ihr Gesicht zu schauen.« Er beugte sich über ihre Hand und küsste die Spitzen ihrer Finger. »Habe ich Ihnen eigentlich schon mal gesagt, Emily, wie unglaublich hübsch Sie sind?«
»Wollen Sie sich über mich lustig machen, Mr. Cole?« Verärgert wandte sie sich ab und schaute nach ihren Eltern. Herrgott, wo blieben sie denn? Sie standen noch in der Kirche, zusammen mit Emilys Bruder Georgey, und verabschiedeten sich von dem Pfarrer. Sarah erzählte mit großen Gesten noch irgendeine Geschichte.
Als Emily sich wieder zu Mr. Cole umdrehte, stutzte sie. Seine sonst immer so beweglichen Augen ruhten
Weitere Kostenlose Bücher