Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rebellin

Die Rebellin

Titel: Die Rebellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Prange
Vom Netzwerk:
mit übertriebener Harmlosigkeit. »Wie kommst du denn darauf?«
    »Mr. Cole«, fügte ihr Vater eilig hinzu, »hat uns nur gerade berichtet, was er als Nächstes tun wird, um noch größere Unterstützung für die Weltausstellung zu finden. Stell dir vor, er plant eine Veranstaltung mit den Bürgermeistern aller Großstädte Englands.«
    »Was du nicht sagst«, erwiderte Emily. »Aber hat Mr. Cole uns das nicht bereits auf dem Hinweg erzählt?«
    Cole wollte etwas erwidern, doch bevor er dazu kam, warf Emily den Kopf in den Nacken und marschierte weiter. Warum hatte sie nur diesen blöden Hut aufgesetzt? Um nicht der Versuchung zu erliegen, sich umzudrehen, heftete sie ihren Blick auf die Häuserfront, die sie gerade passierte. Wie monoton die Gebäude waren! Eine Backsteinfassade mit zwei oder drei Fenstern pro Stockwerk, ein Eisengitter zur Straße, dazwischen ein handtuchgroßes Stück Rasen – ein Haus wie das andere, als stammten sie aus einer Fabrik. Nur die Türklopfer unterschieden sich voneinander: gutmütige Löwen, die den Passanten anlächelten, als wollten sie ihn zum Eintreten auffordern, Zähne fletschende Hundeköpfe, die nach fremden Eindringlingen zu schnappen schienen, eine ägyptische Sphinx, mit aufgestülpter Nase und spitzem Kinn. Ob sie Coles Geheimnis wohl kannte?
    Endlich gelangte Emily zum Haus ihrer Eltern. Ohne auf die anderen zu warten, betätigte sie den Klopfer, einen wild gelockten Messinglöwen, der ihr früher immer wie ein mächtiger Beschützer erschienen war. Heute empfand sie ihn als einen unsympathischen Grobian.
    Jonathan, der Butler, machte ihr auf.
    »Ah, Miss Emily! Gerade wurde ein Brief für Sie abgegeben.«
    »Ein Brief? Für mich?«
    Sie nahm das Kuvert, das Jonathan ihr reichte, und drehte es um, doch es stand kein Absender darauf. Trotzdem hatte sie keinen Zweifel, von wem der Brief stammte. Aufgeregt faltete sie ihn auseinander. Der Inhalt bestand nur aus wenigen Zeilen.
    Ich habe den Druck noch einmal überarbeitet. Letzte Möglichkeit zur Korrektur am vorgeschlagenen Ort, 18 Uhr.

16
     
    So etwas war Victor noch nie passiert! Zwei Wochen lang hatte er mit Toby Unterschriften für die Petition der Chartisten gesammelt, in jeder freien Minute, und jetzt, da er die Liste abgeben musste, damit sie rechtzeitig zur öffentlichen Auszählung gelangte, hatte er keine Zeit, sie wegzubringen, weil er eine Verabredung getroffen hatte, ohne an irgendetwas sonst zu denken. Doch es gab einen Grund für seine Verwirrung, den schönsten Grund der Welt, über den man sogar die Chartisten und Feargus O’Connor vergessen konnte. Und dieser Grund hieß Emily.
    Mit dem Versprechen, einen großen Druckauftrag an Land zu ziehen, hatte er schon um fünf Uhr Feierabend gemacht – Mrs. Finch persönlich hatte ihm dafür frei gegeben. Jetzt suchte er das Viertel zwischen Oxford Street und Strand nach Toby ab, der am Nachmittag mit Robert zusammen Druckbogen in die Fleet Street gebracht hatte und längst wieder hätte zurück sein müssen. Toby sollte die Liste für ihn abgeben, damit er selber pünktlich um sechs am Drury-Lane-Theater sein konnte.
    Bei der Brauerei am Ende der Tottenham Court Road bog Victor in eine Gasse ein. Er konnte immer noch nicht glauben, dass Emily sich mit ihm verabredet hatte – am helllichten Tag, mittenin London! Ein Dutzend neue Abzüge hatte er von den Seerosen gemacht, als müsse er ihr beweisen, dass sie sich nicht umsonst mit ihm traf. Er wusste selbst, dass das Unsinn war, aber das Wiedersehen in Chatsworth hatte ihn völlig durcheinander gebracht. Es war, als hätte sich eine Tür geöffnet, die lange Zeit verschlossen gewesen war, und helles Licht flutete nun in einen Raum, der so dunkel und stickig gewesen war wie ein Kellerloch. Trotzdem hatte er sich in den letzten Tagen manchmal gefragt, ob die Tür nicht besser verschlossen geblieben wäre. Denn seit seiner Reise nach Chatsworth musste er ständig an den Satz denken, den seine Mutter so oft zu ihm gesagt hatte, nachdem sie aus ihrer Heimat vertrieben worden waren: »Die Paxtons sind alle faule Äpfel, und wer mit ihnen in Berührung kommt, steckt sich nur an …« Er war überzeugt, dass seine Mutter Unrecht hatte. Heute Abend würde er es wissen.
    Doch wo zum Teufel steckte Toby? Nirgendwo konnte er ihn finden: weder bei den Würflern in Holborn noch bei den Boxern in Clare Market oder den Rattentötern in den Hinterhöfen der Drury Lane. Vielleicht war er beim Groschen-Schwof der

Weitere Kostenlose Bücher